40 Klavierspieler der Musikschule Winsen spielen 13 Stunden lange Komposition des Komponisten Erik Satie

Winsen. Reine Schikane sei das Stück, befand er selbst, der Komponist, und gab ihm den Untertitel „Traum oder Alptraum?“: Erik Satie, bekannt für seine Ironie und seinen bissigen Humor, hat das längste Klavierstück der Welt geschrieben: „Vexations“ – zu Deutsch: Quälereien. Die Musikschule Winsen bringt es mit 40 (!) Klavierspielern am Freitag, 6. September, zu Gehör: in insgesamt 13 (!) Stunden.

Chefin Christiane Dräger-Meier muss schon selbst lachen, wenn sie über das Projekt erzählt: Nie wieder würde sie so eine Aktion starten, nie wieder... Aber das erste und einzige Mal wird ein Knaller – davon ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszugehen.

Also: Erik Satie, französisches Allround-Talent der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, hat sich selbst nicht als Komponist bezeichnet, sondern als Stückemacher. Und wer schon mal von musikalischem Minimalismus gehört hat, bekommt beim Hören von Satie eine Ahnung, wann es angefangen hat mit der Minimal Music: eben bei Satie.

Da er für sich nicht das Recht in Anspruch nahm, seine Zuhörer zu 100 Prozent für sich zu buchen, entschied er sich, Musik wie Möbel zu schreiben: als etwas, das im Raum ist, während sich darin Menschen bewegen, unterhalten und miteinander lachen. Satie nannte das Möbelmusik – wirklich!

Ein Klangteppich ist es also, den die insgesamt 40 Klavierspieler am Freitag im Gemeindehaus St. Marien ausrollen. „Satie selbst hat das Stück nicht veröffentlicht, es wurde nach seinem Tod in der Schublade gefunden“, erzählt Christiane Dräger-Meier. Die langjährige Klavierlehrerin glaubt auch nicht, dass es der Komponist ganz ernst gemeint hat mit seiner Anweisung, das Stück 840-mal, in Worten: achthundertvierzig Mal, zu wiederholen. „Er macht sich wohl eher lustig über den dumpfen, manchmal hirnlosen Übungsbetrieb am Pariser Konservatorium.“

Zwischen 18 und 23 Stunden haben Pianisten bislang dafür gebraucht, den Teppich auszulegen: ohne etwas zu essen, zu trinken oder auszuscheiden. John Cage ist 1963 der Erste gewesen, der knapp 40 Jahre nach Saties Tod überhaupt auf die Idee kam, das Stück tatsächlich so zu spielen, wie es auf dem Notenblatt gefordert wird: très lent, also sehr langsam, und eben viele hundert Mal.

Mit „ernster Regungslosigkeit“ solle sich der Spieler auf das Stück vorbereiten, notierte der Schreiber auf das Blatt – in Winsen kann davon zum Glück keine Rede sein. Lustig geht es zu, wenn die Gequälten in spe zusammenkommen, um das auf 13 Stunden angesetzte Hintergrundkonzert zu besprechen, für das die Musikschule übrigens den Kultursommerpreis des Landkreises Harburg bekommen hat.

„Meine Familie kann es schon nicht mehr hören“, erzählt Marion Beckedorf, 62, lachend. „Ist das schon wieder dieses undefinierbare Stück?, fragt mein Sohn immer, wenn ich es übe.“ Denn auch wenn die Musik nur eine Tapete sein soll für die Besucher am Freitag von 11 bis 24 Uhr, eine Umgebung, in der sie Kaffee trinken und sich austauschen können, so müssen alle Spieler doch fleißig üben: Denn ungefähr 20 Minuten lang immer und immer wieder dieselben Notenabfolge zu spielen, erfordert höchste Konzentration, wenn das Tempo nicht schwanken, der Ausdruck nicht schwächeln soll. Auch der Übergang von einem zum anderen Spieler will geübt sein – hören können soll man den Wechsel schließlich nicht! Zwischen zwölf und 84 Jahre alt sind die Pianisten am Freitag – und einer von ihnen ist echt bekannt: Götz Östlind, in Winsen groß geworden und Ex-Eleve der Musikschule.

Als Teil des Duos „Die Show-Pianisten“ – gern in Schwarz und Weiß jeweils im Gegensatz zu ihrem jeweiligen Flügel angezogen – tourt er durch Deutschland und die Welt, fliegt über die Bühne und lässt es krachen und klingen.

Am Freitag allerdings, hat das Abendblatt aus gut unterrichteten Kreisen erfahren, wird Östlind genauso ruhige Möbelmusik machen wie die anderen Spieler vor und hinter ihm (er ist übrigens um 21 Uhr dran).

„Das ist eine riesige Solidaritätsaktion mit der Musikschule“, sagt Christiane Dräger-Meier strahlend. „So viele machen und helfen mit, das ist ganz toll.“ Es gibt Flügel-Kekse, Kaffee und Tee, später Wein, im Vortragssaal stellt der Winsener Maler Wolfgang Kahle vom Satie-Werk inspirierte Bilder aus, im Foyer informiert eine Ausstellung über den etwas kauzigen Komponisten, und um 20 Uhr beginnt die amerikanische Versteigerung eines Satie-Porträts des Wulfsener Malers Bernd Heußinger. Alle Einnahmen und Spenden gehen in Schallschutzmaßnahmen der neuen Räume der Musikschule – damit die Töne drinnen bleiben, ob als Sonate oder Sofa, Tonleiter oder Teppich.