Ursprünglich entwickelte Jochen Kenndoff für die Firma Beiersdorf spezielle Wundpflaster. Bis er beschloss, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Inzwischen sind seine Melkpflaster und Wundverbände bis zu den Milchställen Neuseelands verbreitet. Teil 3 der Serie „Aus Harburg in die Welt“

Was treibt einen ehemaligen Abteilungsleiter der Produktentwicklung von Beiersdorf-Produkten, der den Markt in Asien aufgebaut hat und zu den Besten seines Faches gehört, morgens um fünf Uhr in einen Kuhstall nach Schleswig-Holstein? Was zieht einen gut verdienenden Angestellten in die Rauhe See der Selbstständigkeit? Um diese Fragen beantworten zu können, muss man die Geschichte von Dr. Jochen Kenndoff kennen. Sie beginnt mit einem Studium der Chemie an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, geht über eine glänzende Karriere bei einem der größten Unternehmen für globale Hautpflege und endet in einem Kuhstall inmitten von 100 Milchkühen. Dort steht der 53-Jährige eines frühen Morgens gemeinsam mit dem Landwirt und stellt die Fragen, die seiner Biografie eine entscheidende Wendung geben. Er will wissen, ob es Probleme gebe, Verletzungen an den Zitzen vielleicht. Und was der Bauer dagegen tue. Der Landwirt nickt. Eine Kuh, die verletzt sei und deshalb keine Milch gebe, gehe meistens in den Schlachthof. Man könne eben nicht Monatelang auf Heilung warten. Mit dieser Antwort hat der Chemiker gerechnet. Er weiß, dass er hier etwas ändern kann.

Dieser Besuch liegt mehr als fünf Jahre zurück. Jochen Kenndoff sitzt in seinem Büro am Tempowerkring im Stadtteil Heimfeld. Sekretärin Silke Hennig kontrolliert eine Auftragsliste, schreibt Rechnungen, beantwortet Anfragen. Es geht um die Produkte, die der Chemiker in den vergangenen Jahren entwickelt hat: Melkpflaster und Verbände für die Hufkrankheit Mortilla. Kenndoff ist ein Fachmann auf dem Gebiet der Wundversorgung. Jahrelang war er verantwortlich für die Entwicklung innovativer Produkte auf Basis von Polyurethan. „Irgendwann war mir klar, dass ich etwas Eigenes machen will“, sagt er. „Ich wusste, dass ich mit dem, was es bereits auf dieser Welt gibt, auch an anderer Stelle Gutes bewirken kann. Man muss nur bereit sein, über Grenzen zu gehen.“

Und er geht. Beiersdorf erlaubt ihm, die zum Teil von ihm entwickelten Patente zu nutzen. Für etwas völlig Neues. Kenndoff lässt im Internet recherchieren, wo es auf dem Tiermarkt Bedarf gibt. Doch das Ergebnis bringt ihn nicht weiter. „Einen Erste-Hilfe-Koffer für Haustiere gab es bereits“, sagt er. „Also habe ich mir überlegt, an welchen Orten außerdem viele Tiere gehalten werden.“ So kommt Kenndoff auf die Kuh. Er will Verletzungen an den Zitzen von Milchkühen heilen und bringt 2009 den ersten Melkverband mit Polyurthanfilm auf den Markt. Er schützt die Wunde und wirkt wie Schorf, unter dem die Verletzungen heilen können, selbst wenn die Wunde durch den Melkvorgang weiter belastet wird. Für den Lizenzgeber ist der Markt uninteressant. Für Jochen Kenndoff aber ist er ein vielversprechendes Terrain, das er erobern möchte. Im Dezember 2007 meldet er sein Gewerbe an. Einen Monat später unterzeichnet er einen Auflösungsvertrag mit seinem Arbeitgeber.

„Es waren fünf schwierige, aber auch sehr interessante und lehrreiche Jahre“, sagt Kenndoff, der mehrmals kurz vor der Pleite stand. „Ich möchte keinen Moment davon missen.“ Vor allem die ersten Monate waren etwas ganz Besonderes. Die Zeit, in der er aufbricht, eine ihm völlig fremde Welt zu erkunden – die Milchviehhaltung.

„Ich wollte mich bei den Fachleuten vor Ort über die Branche informieren“, sagt der Münchener. Kenndoff weiß, dass er in seinem Fachgebiet Experte ist. Er weiß aber auch, dass er in Sachen Landwirtschaft an der Basis beginnen muss.

Also macht er ein Praktikum bei einem Klauenpfleger im Bayerischen Wald. Johann Haas heißt der Mann. Er wird zum wichtigsten Verbündeten und späteren Freund von Kenndoff. Zwei Wochen verbringen die beiden gemeinsam im Stall. Gemeinsam mit einem weiteren Kollegen, Rainer Höfler, testet er das von ihm entwickelte Pflaster an den Kühen. Bereits nach dem ersten Versuch weiß der Chemiker, wie das Produkt aussehen muss. Er hat es nicht anders erwartet. „Genie ist ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration“, zitiert er den amerikanischen Physiker Thomas Alva Edison.

Die anfängliche Euphorie weicht der ernüchternden Realität. Das Pflaster ist zwar auf dem Markt, die Bauern sind interessiert, aber der Absatz bleibt gering. Obwohl er 2011 vom Deutschen Landwirtschaftsverlag den Preis für die beste Innovation erhält, bleibt der große Durchbruch aus. Doch Aufgeben will Kenndoff nicht. Im Gegenteil: „Dann mache ich eben etwas Neues und erweitere das Sortiment“, denkt er. 2012 entwickelt er „Mortella Heal“, das erste Pflaster, das hilft, Dermatitis-Digitalis-Wunden zu heilen. Die Morellaro’sche Krankheit ist auf der ganzen Welt verbreitet. Dabei handelt es sich um eine Hauterkrankung im Ballenbereich oder im Zwischenklauenspalt. Sie ist sehr schmerzhaft und verursacht Lahmheiten bei den Tieren.

Waren vor gut zehn Jahren noch etwa zehn Prozent der Laufstallkühe erkrankt, so sind inzwischen weit mehr als die Hälfte aller Betriebe davon betroffen. Weil Arzneimittel wie Salben oder Pasten lange Wartezeiten haben, sucht die Branche schon seit Jahren nach einer Möglichkeit, ohne den Einsatz von Antibiotika effektiv mit der Krankheit fertig zu werden.

Dr. Kenndoffs pflasterartige Wundauflage aus Polyurethan ist die Lösung. Seit Mai ist das Produkt jetzt auf dem Markt. Und wie beim Melkpflaster hofft Kenndoff auch hier, dass es über die deutschen Grenzen hinaus Erfolg haben wird. Partner hat er bereits in der Schweiz, in Österreich, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Israel, Finnland und neuerdings auch in Neuseeland.

Auch wenn die Kassen noch immer nicht wie gewünscht klingeln, bleibt Kenndoff optimistisch – und sich selber treu: „Ich gehe nicht an die Dinge heran und frage, wo ich Geld verdienen, sondern wo ich Probleme lösen kann.“ Sicherlich wäre er erfolgreicher, wenn er es genau anders herum angehen würde.

So wie ein Bekannter, der Sonnenbrillen für Hunde entwickelt hat. Die Vierbeiner können sie tragen, wenn sie neben Herrchen im Cabrio sitzen. Für einen Wissenschaftler wie Jochen Kenndoff ist das nichts. Er will etwas Nachhaltiges schaffen. Und jede Kuh, die er auf diese Weise heilen kann, ist ihm mehr wert als das große Geld.