Abendblatt-Interview mit dem neuen Schulleiter des Immanuel-Kant-Gymnasiums, Sönke Törper

Marmstorf. Seit 1. August ist Sönke Törper neuer Schulleiter am Immanuel-Kant-Gymnasium. Zuletzt war der 50-Jährige sieben Jahre lang Hauptseminarleiter am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. Im Interview mit dem Abendblatt spricht er über den Stellenwert von Kompetenzen, den Verlust wertvoller Bildungsinhalte und die Auswirkungen des Turbo-Abiturs.

Hamburger Abendblatt:

Herr Törper, was hat Sie bewogen, quasi aus der Theorie in die Praxis zu wechseln?

Sönke Törper:

Mich hat die ganz konkrete Arbeit an einer Schule gereizt. Lehrer für alle Fächer in den Grundlagen wie Didaktik, Pädagogik und Schulrecht zu unterrichten war interessant und bereichernd. Sich aber noch einmal dem Schulalltag unmittelbar zu stellen, empfinde ich als lohnende Herausforderung, der ich mich gern stelle.

Werden Sie denn auch unterrichten?

Törper:

Das müsste ich nicht notwendigerweise, aber ich möchte es. Ich unterrichte vier Wochenstunden Kunst in den Klassenstufen acht und elf. Mir ist es einfach wichtig, auch direkt mit den Schülern im Kontakt zu sein. Ich will wissen, was sie bewegt und welche Bedürfnisse sie haben. Außerdem hat mich der konkrete Unterricht schon immer gereizt. Das war ja auch der Grund, warum ich nach meinem Studium der bildenden Kunst und Germanistik Lehrer geworden bin. Über Praktika und das Referendariat habe ich gewissermaßen meine pädagogische Ader entdeckt.

Sie haben als Hauptseminarleiter die angehenden Lehrer intensiv begleitet. Sehen Sie entscheidende Unterschiede zu ihrem eigenen Referendariat?

Törper:

Referendare müssen heute zu früh und zu viel vollwertigen Unterricht geben, die verpflichtende Stundenzahl hat sich immer weiter erhöht. Dieser Druck beschneidet ihre Möglichkeiten, intensiver über Lernen und Unterricht nachzudenken und sich ganz basalen pädagogischen Fragen zu stellen. Das finde ich problematisch.

Was wussten Sie vorher über das Kant-Gymnasium?

Törper:

Ich kannte es bereits durch einige Hospitationen, überdies sind zwei meiner ehemaligen Referendare heute Lehrer hier. Ich empfand die Atmosphäre schon immer als sehr angenehm. Das Schulgelände ist ruhig gelegen, es wirkt friedlich und sauber. Schülerschaft und Kollegium sind sehr aufgeschlossen und interessiert, man begegnet einander freundlich und mit Respekt. Und das alles ohne die geringste Spur von Drill. Außerdem weiß ich, dass es an der Schule etliche besonders naturwissenschaftlich und fremdsprachlich begabte Schüler gibt. So haben Sarah Corner und Wiebke Bergemann aus der Klasse 9c beim Landeswettbewerb Fremdsprachen in Englisch erste Plätze belegt und vertreten Hamburg nun auch auf Bundesebene.

Haben Sie bereits Defizite ausmachen können?

Törper:

Das wäre zu früh. Ich bin momentan noch dabei, mir einen umfassenden Überblick zu verschaffen. Allerdings bin ich auch nicht mit einem Koffer voller Reformideen gekommen. Alles, was geschieht oder nicht geschieht, hat seine Gründe. Ob sie nachvollziehbar und vernünftig sind, muss immer im Einzelfall geprüft werden. Ich habe aber schon mal angekündigt, möglichst oft hospitieren zu wollen. Das Echo im Kollegium war durchaus positiv. Acht Lehrer haben mich bereits ausdrücklich in ihren Unterricht eingeladen.

Welche Schwerpunkte wollen sie setzen?

Törper:

Ich will eine stärkere Vernetzung, einen intensiveren Austausch zwischen den Kollegen forcieren und ausgeprägtere Kooperationsstrukturen schaffen. Weil ich davon überzeugt bin, dass das die Unterrichtsqualität nachhaltig verbessern kann. Und natürlich wollen wir unser Profil als Europaschule mit bilingualem Unterricht sowie unsere Orientierung auf die MINT-Fächer schärfen. Wertvoll scheint mir hier die Kooperation mit der TU Harburg. Und wir wollen herausfinden, wie sich das vor einem Jahr eingeführte Lernraumsystem optimal nutzen lässt und am Ende dieses Schuljahres über seine Fortsetzung entscheiden.

Immer mehr Pädagogen monieren, dass die Lehrpläne zu sehr auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet werden. Teilen Sie diese Kritik?

Törper:

Es gibt eine deutliche Tendenz in der Bildungspolitik, Schüler vorrangig zu Problemlösungen zu befähigen. Entsprechend wurden die Rahmenpläne verändert. Kompetenzen haben einen deutlich höheren Stellenwert bekommen. Das Leben besteht aber nicht nur aus Problemen, die gelöst werden müssen. Für meinen Geschmack sind Fächer wie Kunst oder Philosophie unterbewertet. Das geht zu Lasten von anderen wertvollen Bildungsinhalten. So gehört es zu den elementaren Grundbedürfnissen der Menschen, ihr Verhältnis zur Welt und zu sich selbst zu klären, etwa indem sie sich künstlerisch artikulieren. Dabei sind Fähigkeiten und Qualitäten wichtig, die in dem aktuellen Kompetenzbegriff nicht erfasst sind.

Wie stehen sie zur Diskussion um das Turbo-Abitur?

Törper:

Die Einführung des Abiturs nach zwölf Jahren hat für die Schüler zu einer deutlichen Verdichtung der Lernzeit geführt. Die Rahmenpläne sind nicht in erforderlichem Maße entrümpelt worden, was auch zu einer Ausdehnung der Unterrichtszeit in den Nachmittag geführt hat. Damit werden die individuellen Neigungen und Wünsche der Schülerinnen und Schüler beschnitten, es bleibt effektiv weniger Zeit etwa für musische Interessen und sportliche Betätigung. Es bleibt aber auch weniger Zeit für die kognitive Entwicklung. Es gibt gesicherte Erfahrungswerte, dass es hier bei so manchem noch im 13. Schuljahr einen entscheidenden Schub gibt. Offenbar haben auch bei dieser Entscheidung vor allem ökonomische Argumente den Ausschlag gegeben.