Das Gärtnern in der Stadt ist ein Trend. Freilichtmuseum am Kiekeberg zeigt in einer Sonderausstellung mobile Beete

Ehestorf . Städter bauen ihr eigenes Gemüse in Bäckerkisten auf Parkgaragendecks an. Sie pflanzen Tomaten in ausrangierten Wahlurnen. Anonyme Citynomaden lassen Blumen im S-Bahnhof oder auf Verkehrsinseln an Hauptstraßen blühen. Bis vor kurzem galt der Gemüsegarten noch als Relikt der Nachkriegszeit. Seit einigen Jahren aber sind kleine, bewegliche Citygärten ein Zeitgeistphänomen, Urban Gardening genannt. Das Freilichtmuseum am Kiekeberg hat am Wochenende in seinem Science-Center Agrarium eine Sonderausstellung zu der neuen Form der grünen Kultur eröffnet: Das Gärtnern auf öffentlichen Flächen inmitten der Großstadt.

Die neue Lust der Großstädter am Gärtnern sei wie ein Kult, sagt Lydia Goldschmidt, die Kuratorin der Sonderausstellung. „Menschen in der angeblich so anonymen Großstadt kümmern sich umeinander, sie pflegen selbstlos die Beete der anderen“, schwärmt sie. Die Museumsvolontärin lebt in Hamburg und hatte die Idee, im benachbarten Landkreis das „komische Treiben“ der Großstädter zu zeigen. Am Freilichtmuseum vor den Toren Hamburgs gehört es zur Ausbildung, dass die Volontäre eine Ausstellung selbstständig organisieren.

Das eigentlich für seine erlebnisreiche Mitmachkonzeption bekannte Agrarium zeigt in diesem Fall eine klassische Leseausstellung. Wer sich auf die reich bebilderten Ausstellungswände einlässt, erfährt das breite Spektrum von verschiedenen Formen und Motivationen dieser gar nicht so einheitlichen grünen Bewegung in Balkongärten, interkulturereln gärten, mobilen Gärten, Nachbarschaftsgärten und Guerilla-Beeten.

Eines der ältesten Erscheinungsbilder dieses Zeitgeistphänomens sind die Interkulturellen Gärten. Bundesweit gibt es etwa 130 davon, einen auch in Wilhelmsburg. Einheimische und Zugewanderte bewirtschaften eigene Parzellen und tauschen Saatgut und Kochrezepte. Interkulturelle Gärten entstanden in den 1990er-Jahren. Traumatisierte Frauen aus den Bürgerkriegen in dem ehemaligen Jugoslawien, die nach Deutschland geflüchtet waren, hatten Sozialarbeitern berichtet, was sie am meisten aus ihrer Heimat vermissen: das Gärtnern. Nicht selten lag darin die Keimzelle für Interkulturelle Gärten.

Aus dem Interkulturellen Garten in Wilhelmsburg stammt auch eines der wenigen Ausstellungsexponate zum Anfassen. Eine frühere Wahlurne hat eine neue Funktion erhalten und dient nun als mobiles Beet, in dem Tomaten und anderes Gemüse wächst. „Das finde ich stark, ein ehemaliger Mülleimer“, sagt eine Besucherin, als sie daran vorbeigeht. Mobilität ist ein wichtiges Element beim Gärtnern in der Betonwüste. „Man muss mobil sein, weil man jederzeit damit rechnen muss, nicht mehr geduldet zu werden“, erklärt Lydia Goldschmidt, was klassische Schrebergärten von den neuen Stadtbeeten unterscheidet.

Urban Gardening ist auch die Reaktion vieler gut gebildeter und vermögender Großstadtbewohner auf verschiedene Lebensmittelskandale. Weil sie sich gesund ernähren wollen, verzichten sie auf Ware von Discountern und erzeugen ihre eigenen Lebensmittel. Wer selbst sät, kann die Herkunft seiner Tomaten, Gurken und Bohnen selbst kontrollieren. Diese Menschen gärtnern, um zu zeigen, wie es besser laufen könnte mit der Lebensmittelproduktion. In Neugraben-Fischbek zeihen Großstädter bei dem Projekt „Erntezeit“ in insgesamt 60 von einem Landwirt gepachteten Parzellen ihr Gemüse selbst aus der Ernte.

Nicht selten ist Gärtnern in der Großstadt vor allem politisch. Dem Projekt „Die Keimzelle“ in St. Pauli geht es um Mitspracherechte und stadtentwicklungspolitische Alternativen. Die Akteure hoffen auf eine dauerhafte Grünfläche auf dem Gelände, das an einen Supermarkt verpachtet ist. Mittlerweile berichtet das politikwissenschaftliche Fachblatt „Blätter für deutsche und internationale Politik“ über Urban Gardening. Dem Gartenmagazin „Landlust“ ist es in diesem Jahr gelungen, eine höhere Auflage als das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zu erzielen.

Ein Phänomen des Urban Gardenings ist das illegale Guerilla-Gardening, dem sich die Sonderausstellung ausführlich und unterhaltsam widmet. Guerilla-Gärtner sind Menschen, die anonym und ohne Erlaubnis im öffentlichen Raum Pflanzen wachsen lassen. An unwirtlichen Orten wie U-Bahnhöfen oder Verkehrsinseln auf viel befahrenen Hauptstraßen bringen sie Blumen zu blühen. In Hamburg vermittelt eine Urban-Gardening-Beauftragte der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt bei Konflikten.

In der Studentenstadt Göttingen hätten Guerilla-Gärtner Hanfblumen gesät, sagt Lydia Goldschmidt. Vor allem das Gelände der Polizei sei mit sogenannten Saatbomben eingedeckt worden. Das sind tomatengroße Kugeln aus Erde, Lehm und Saatgut, die auf unwegsames Gelände geworfen werden. Helfen Regen und Sonne, gehen die Saatbomben auf und blühen selbst auf Brachen. Auch die Gäste der Ausstellung erhielten bei der Eröffnung eine Saatbombe geschenkt: Braune Kugeln aus Lehm, Erde und Wildblumensaatgut.

Heiner Schönecke (CDU), Vorsitzender des Museumsfördervereins, zeigt Sympathien für das Guerilla-Gardening. Saatgutbomben täten der Verkehrsinsel vor der Einfahrt zu seinem Heimatort Elstorf gut: „Die ist seit mindestens sechs Jahren nicht mehr gepflegt worden“, sagt er. Angebot am Rande: Familien können am Sonnabend, 17., und Sonntag, 18. August, 10 bis 18 Uhr, im Agrarium Minikräutergärten in Milchtüten bauen.