Psychosoziale Berater machen Kollegen nach traumatischen Erlebnissen in Gesprächen wieder fit für den Dienst. Insgesamt sechs Regionale Beratungsstellen gibt es seit dem Jahr 2000 in Niedersachsen.

Michael Tomczak ist ein erfahrener Polizist. Allein elf Jahre lang hat der 52-Jährige als Ermittler bei Brandtodesfällen und Sexualdelikten viel Schreckliches gesehen. Dass aber auf Polizisten im Gebiet der Polizeidirektion Lüneburg jemals geschossen worden ist, daran kann sich der psychosoziale Berater der Polizei nicht erinnern. Buchholz, Buxtehude, Lüchow - an Orten mit solchen Namen erwartet niemand ein Feuergefecht.

In Nindorf erst recht nicht. Der kleine Heideort steht eigentlich nur für eines: fröhliche Ausflüge in den Wildpark. Am 19. Juli, einem wunderschönen Sommertag, hat ausgerechnet dort vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Polizeidirektion Lüneburg ein Verbrecher mit einer scharfen Waffe auf einen Polizisten geschossen.

Nach einem Überfall auf das Wildpark-Kassenhäuschen schießt der 51 Jahre alte Räuber erst in Richtung eines 23 Jahre alten Beamten, verfehlt ihn und tötet sich anschließend selbst mit einem zweiten Schuss in den Kopf.

Als die Polizisten alarmiert wurden, konnten sie nicht ahnen, dass sie kurz darauf einem Mann gegenüberstehen würden, der zu allem bereit ist. Die Dienststelle in Buchholz liegt etwa 14 Kilometer entfernt vom Tatort. Dass der Räuber bewaffnet sei, hätten sie zwar gewusst, sagt die Polizeisprecherin Wiebke Hennig. Aber: "Die Kollegen fahren doch ein wenig mit der Erwartung hin: Bis wir angekommen sind, ist der Täter schon weg!" Doch der bewaffnete Räuber flüchtet in einen nahe gelegenen Wald. Hier spüren ihn die Polizisten auf.

Während der Schüsse befinden sich fünf Polizisten aus Salzhausen und Buchholz in Sichtweite des Täters. Zwei von ihnen sind nur einige Meter von dem Räuber entfernt, als er in ihre Richtung schießt. Den Polizisten wird wohl wie niemals zuvor bewusst, dass ihr Beruf tödlich sein kann.

Noch an demselben Nachmittag kümmern sich zwei besonders ausgebildete Polizisten um ihre Kollegen, die in Lebensgefahr geraten waren. Polizeiintern heißen sie psychosoziale oder auch kollegiale Berater. Sie sind keine studierten Psychologen. Sie sind Polizisten, die darauf spezialisiert sind, Kollegen bei "besonders belastenden Ereignissen", wie es im Amtsdeutsch heißt, zu helfen. Einer von ihnen ist Michael Tomczak. Er ist Trainer für Stress- und Konfliktbewältigung. Für seine Aufgabe als psychosozialer Berater hat sich der 52-Jährige an der Universität Lüneburg fortgebildet. Fachberater Psychotraumatologie darf er sich auch noch nennen. Spezielle Trauma-Institute in Hamburg und Kassel bilden dazu aus. Ein Kollege Tomczaks hat eineinhalb Jahre lang eine Ausbildung zum Fairness-Trainer gemacht.

Der kollegiale Berater erlebt die Polizisten unmittelbar nach dem Einsatz noch "unter Strom" stehend. Ein erröteter Kopf, ein kleines Zittern können Zeichen des Körpers auf eine besondere Belastung sein. Auch, dass jemand sich nicht an Details zu erinnern vermag. Kein Grund, sich Sorgen zu machen, gibt Michael Tomczak dann zu verstehen. Das seien normale Reaktionen auf ein unnormales Ereignis.

Insgesamt vier psychosoziale Berater, zwei Männer und zwei Frauen, kümmern sich um die rund 2300 Polizeibeamten und rund 500 Angestellten der Polizeidirektion Lüneburg, wenn es ihnen nicht gut geht. "Regionale Beratungsstelle" nennt die Polizei diese Abteilung mit Sitz in Lüneburg, was unverfänglich klingt und die Hemmschwelle senkt.

Die viel zitierte Couch, die man mit der Praxis eines Psychiaters verbindet, sucht man vergeblich. Schreibtische mit Computern darauf, ein Tisch mit vier Stühlen für Gespräche - in der Beratungsstelle sieht es nicht anders aus als bei einem Versicherungsberater.

Insgesamt sechs Regionale Beratungsstellen gibt es seit dem Jahr 2000 in Niedersachsen - in jeder Polizeidirektion des Landes eine. Laut Tomczak sei ein solch dichtes Beratungsnetzwerk innerhalb der Polizeiorganisation einmalig im Bundesgebiet. Ursprünglich kümmerte sich eine Handvoll Berater in Hannover um alle niedersächsischen Polizisten - von Stade bis Göttingen, von Emden bis Lüchow.

Schnell wurde klar, dass der Bedarf größer war.

Nachsorgegespräche wie in dem Nindorfer Fall sind nicht der Alltag von Michael Tomczak. Die psychosoziale Unterstützung bei erlebter Gewalt, Hilflosigkeit oder nach Schusswaffengebrauch, machen etwa fünf Prozent seiner Arbeit aus. In neun von zehn Beratungsgesprächen suchen Polizeibeamte Hilfe bei Lebenskrisen, etwa weil sie um einen Menschen trauern, sich ausgebrannt fühlen oder Beziehungsprobleme ihnen zu schaffen machen. Die Gespräche seien vertraulich, betont Michael Tomczak. "Die Hemmschwelle, uns aufzusuchen, ist sehr gering", so der Beamte.

Eine zunehmende Hemmungslosigkeit, auf Polizisten loszugehen, dürfte die kollegialen Berater mehr und mehr beschäftigen. Männer und Frauen gehen nicht selten in den Polizeidienst, weil sie helfen wollen. Wenn Polizisten selbst auf dem flachen Land angegriffen werden, wird dieses Weltbild in Frage gestellt.

Polizeisprecherin Wiebke Hennig schildert einen Einsatz aus der jüngsten Zeit in Winsen, als Polizeibeamte unvermittelt einer gewaltbereiten Übermacht gegenüber standen. Auf einem Parkplatz kam es zu einem Großeinsatz. Zeugen hatten eine Massenschlägerei mit etwa 15 Beteiligten gemeldet. Als die ersten zwei Streifenwagen eintrafen, schien die Lage weitgehend entspannt zu sein. Wenig später trat aber eine Gruppe Jugendlicher in Erscheinung, die mit Eisenstangen und Hämmern auf die anderen losging. Auch die Polizeibeamten und vier Männer, die sie festgenommen hatten, wurden angegriffen. Selbst mit dem massiven Einsatz von Pfefferspray waren die Streitparteien nicht zu trennen. Am Ende waren 43 Polizisten nötig, um den Frieden wieder herzustellen.

Ein Polizist musste einen Warnschuss abgeben. Sechs Beamte zogen sich bei dem Einsatz leichte Verletzungen zu. "Wir haben einen Anstieg zu verzeichnen, was Gewalt gegen Polizeibeamte betrifft", sagt Wiebke Hennig.