Einst spielten die Kinder der Hausgemeinschaft Veringstraße 83 zusammen im Hinterhof. Noch heute treffen sie sich

Wilhelmsburg . Als Kinder waren sie dickste Freunde, haben im Hinterhof zusammen gespielt. Mehr als ein halbes Jahrhundert später hat Jutta Mannek, heute 63 Jahre alt, die alte Clique wieder versammelt. "Meine Kindheit war eine Eins", sagt sie über die Zeit im Wilhelmsburg Ende der 1950er-Jahre. Bei monatlichen Treffen erinnern sich die Spielkameraden an Geschichten aus dem Mietshaus an der Veringstraße 83. Im Abendblatt erzählen fünf Freunde von Mutproben auf der "Teufelsbrücke", Feiern im Treppenhaus und warum Mütter Leberwurststullen in den Hof warfen.

Es ist das Jahr 1956, als Jutta Mannek in das Mietshaus an der Veringstraße 83 einzieht. Damals hieß sie noch Kontny und die Miete kostete 36 Deutsche Mark. Elisabeth Hahn (geborene Soczynski), von allen nur "Lischi" genannt, wohnt schon dort. Sie ist in dem Mietshaus geboren und lebt noch heute dort. Hausgeburten sind zu der Zeit nicht unüblich. Spielkameraden muss niemand suchen. Mindestens 30 Jungen und Mädchen gehören zur Nummer 83 und benachbarten Hauseingängen. Der Hinterhof ist ihr Königreich. Der Gang auf "den anderen Hof" auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit viel mehr Schaukeln und Kletterstangen gilt bereits als nicht ungefährliche Expedition. "Das war zumindest problematisch", erinnert sich Reinhold Furmanek, 65, der heute in Tostedt lebt, "denn als wir kleiner waren, wurden wir wieder verjagt."

Bei den Kindern der Mietshausgemeinschaft spielen Statussymbole keine Rolle, "Die Herkunft war unwichtig, wir haben alle zusammen gespielt. Da hat keiner auf die Garderobe geguckt", sagt Jutta Mannek, die heute aus ihrem Beruf als Erzieherin anderes kennt. "Geschichtenball" nennt sich ein Spiel, das heute kein Kind mehr kennt. Dabei jongliert ein Kind mit Bällen und erzählt nebenbei eine Geschichte, die ihm in den Sinn kommt. Fällt ein Ball herunter, übernimmt ein anderes Kind und spinnt die Story weiter. "Sogar wir Jungen haben mitgespielt", wundert sich Reinhold Furmanek 50 Jahre später.

In dem Arbeiterviertel Wilhelmsburg gibt es echte Abenteuer zu bestehen. Eine Mutprobe besteht darin, die 40 Meter lange Brücke der Industriebahn zwischen Veringstraße und Industriestraße zu überqueren. Ehrfurchtsvoll sprechen die Kinder nur von der "Teufelsbrücke". "Das war nur das Gleis, kein Geländer", erklärt Reinhold Furmanek den Grund. Auch der Junge aus dem Hauseingang Nummer 81 ist über das schmale Bauwerk gelaufen, das heute kein Bauamt der Welt genehmigen würde. Seine Erinnerung daran: "Das Herz bibbert, wenn man da oben steht." Heute existiert diese Eisenbahnbrücke längst nicht mehr.

Ende der 1950er-Jahre spielen die Kinder nahezu ohne Pause. "Wir hatten Steine, Stöcker und uns, brauchten kein teures Spielzeug", sagt Jutta Mannek. Weil die Kinder nicht von selbst zum Essen "nach oben" in die Wohnungen kommen, werfen die Mütter den Snack für zwischendurch aus dem Fenster in den Hof. "Meine Mutter schmierte Brot mit Zucker, Schmalz oder Leberwurst, wickelte die Klappstulle in Zeitungs- oder Pergamentpapier und schmiss sie nach unten", weiß Regine Menzel noch ganz genau. Die Mädchen haben die Brotbomben dann elegant mit dem zum Schirm ausgebreiteten Rock ihres Kleides aufgefangen. Den Eltern aus dem Weg zu gehen, hatte noch einen anderen Vorteil: "Sonst hätten wir vielleicht noch Kohle aus dem Keller holen sollen", sagt Regine Menzel. Wenn die Kinder viel Glück hatten, hagelte es Kleingeld statt Klappstullen. "Manchmal warf meine Mutter ein Zehn-Pfennig-Stück nach unten in den Hof", sagt Gertrud Riemenschneider. "Davon haben wir uns dann Eis gekauft."

Die Kinder Ende der 1950er-Jahre haben auch ihre eigene, ganz spezielle Einnahmequelle: Münzen angeln im Kellersiel. In der Veringstraße ziehen sie von Siel zu Siel und fischen mit einem langen Stock nach Pfennigen. "Wir haben grüne Seife benutzt, an der die Münzen kleben blieben", erklärt "Lischi" Hahn die Technik. Ein-Pfennigstücke, Zwei-Pfennigmünzen, manchmal sogar zehn Pfennige: "Wir haben eigentlich immer etwas gefunden", wundert sich Jutta Mannek heute.

Reinhold Furmanek hat dazu eine Theorie: Wenn die Leute auf der Straße ihr Portemonnaie geöffnet haben, seien wohl immer wieder mal ein paar Geldstücke unbemerkt heraus gefallen und in die Siele gerollt. Das mit klebriger Seife geangelte Geld haben die Kinder dann beim Kaufmann in Brausebonbons investiert. Einen Pfennig kostete der prickelnde Lutscher damals. Jutta Mannek erinnert sich noch an eine andere Süßigkeit, die heute längst verschwunden ist: "Wir haben kleine Zuckerbonbons gekauft. Die waren so hart, dass man eine Stunde darauf lutschen konnte."

Die Verhältnisse sind einfach im Wilhelmsburg der 1960er-Jahre. Aber besondere Anlässe werden mit einem großen Fest gefeiert. Gertrud Riemenschneider erinnert sich noch an eine Schulentlassungsfeier 1963. Man mietet keine Gaststätte, sondern feiert zu Hause. Oma und Opa haben Hühner und Kaninchen geschlachtet und Streuselkuchen gebacken. Selbst gemachtes Sauerkraut kommt auf den Tisch. Das ganze Mietshaus ist eingeladen. Die Wohnungstüren auf mehreren Etagen stehen offen, im Treppenhaus wird getanzt. Die Musik kommt von Buddy Holly, Katharina Valente, Ernst Mosch. Die Erwachsenen trinken Weinbrand, Korn oder Eierlikör. Die Kinder löschen mit Fassbrause ihren Durst. "Die von Bachmann", schwärmt Gertrud Riemenschneider; "die haben wir in der Milchkanne gekauft. War die lecker!"

Heute trinken Jutta Mannek und ihre wiedergefundenen Freunde aus der Kindheit Latte macchiato, wenn sie sich in den Cafés des Stadtteils treffen und in Erinnerungen schwelgen. Elisabeth "Lischi" Hahn und ihre Schwester Gertrud Riemenschneider, als Mädchen hießen sie Soczynski, kramen alte Fotos hervor, die niemand der anderen zuvor gesehen hatte. Unverkrampft ist der Ton, die Freunde albern herum. Die Clique ist sich vertraut wie einst. Das nächste Treffen ist am 16. Juli geplant. Zwölf Spielkameraden von einst hat Jutta Mannek wieder finden können. Einer lebt inzwischen in Brasilien. Sie hofft, dass sich weitere bei ihr melden, Telefon (ab 19 Uhr) 040/70 10 47 35.