Was sagen Türken, die in Harburg leben, zu den Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und Regierung in der Türkei?

Harburg. Die Proteste gegen die türkische Regierung und das gewaltsame Vorgehen der Polizei bewegen die Menschen in Europa. Auch in Harburg diskutieren Bürger: Geht die Regierung zu hart mit den Demonstranten um? Oder gefährden die Bürgerproteste den inneren Frieden in der Türkei? Das Hamburger Abendblatt hat Türken befragt, die in Harburg leben.

Ibrahim Batal, 50, ist im türkischen Sivas in Anatolien geboren und hat einen deutschen Pass. Er betreibt einen Kiosk an der Harburger Rathausstraße: "Man möchte die schlimmen Ereignisse in der Türkei eigentlich nicht wahrnehmen. Sie sind sehr schade für die Türkei. Die Menschen sollten milder miteinander umgehen. Ich finde, dass Demonstranten wie Polizisten zu hart aufeinander losgehen. Die Polizisten sollten humaner mit den Demonstranten umgehen. Und die Demonstranten sollten weniger Sachbeschädigungen vornehmen. Ich war anfangs erst für die Demonstranten, aber deren Besetzungen finde ich nicht gut. Sie sollten friedlich und zivilisiert demonstrieren. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat gute und schlechte Seiten: Er sollte die Bürgerrechte mehr achten. Aber er und seine Regierung haben die Türkei wirtschaftlich nach vorne gebracht."

Recep Kocatürk, 35, ist in Kütahya in der West-Türkei geboren. Er betreibt ein Lebensmittelgeschäft am Harburger Ring: "Die Auseinandersetzungen in der Türkei sind eine Art Spiel. Die Leute auf der Straße sind Marionetten, die von mächtigen Leuten auf die Straße gezwungen wurden. Die Leute werden auch durch Facebook und Twitter auf die Straße getrieben. Die Proteste im Gezi-Park sind nur der Auslöser für die landesweiten Demonstrationen. Die wahren Ursachen sind das Alkoholverbot ab 22 Uhr und Neuregelungen bei den Bankzinsen. Ministerpräsident Erdogan hat Millionen neue Bäume in der Türkei pflanzen lassen und jetzt wird er wegen Umweltschädigung im Gezi-Park kritisiert - das verstehe ich nicht.

Unterm Strich finde ich Ministerpräsident Erdogan toll: Er hat viele neue Straßen bauen und alte reparieren lassen. Er hat für sauberes Wasser in Istanbul gesorgt. Es gibt jetzt eine schnelle Zugverbindung zwischen Istanbul und Ankara - der Zug fährt nur noch drei Stunden. Und jetzt wird eine dritte Brücke über den Bosporus gebaut. Auch die Krankenversorgung ist verbessert worden, Arme bekommen in der Türkei jetzt staatliche Unterstützung und Eltern bekommen Kindergeld. Nein, Erdogan geht nicht zu hart mit den Demonstranten um. Die Demonstranten werfen mit Steinen auf Polizisten - das kann sich ein Staat nicht gefallen lassen."

Ali Derinsu, 37, Kurde aus Igdir, Verkäufer: "Dass allein in Istanbul mehr als 1000 Polizisten mit brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vorgehen, ist völlig inakzeptabel. In den vergangenen Tagen sind dabei mindestens sechs Menschen getötet und mehr als 10.000 verletzt worden. Wer so mit seinen Kritikern, die ja alle gleich zu Terroristen erklärt werden, umgeht, der regiert diktatorisch und undemokratisch. Bezeichnend ist auch, dass die Geschehnisse in den türkischen Medien entweder totgeschwiegen oder völlig verzerrt dargestellt werden. Das ist für mich die totale Zensur. Erdogan hat für alle Chancengleichheit versprochen, aber noch immer werden Minderheiten unterdrückt. Für ihren Machterhalt unterstützt Erdogans AKP sogar Al-Kaida. Die Europäische Gemeinschaft sollte genau prüfen, ob sich die Türkei so für eine Mitgliedschaft nicht disqualifiziert."

Yasar Ince, 37, aus Urfa, Mitarbeiter im Restaurant Öz Urfa in der Moorstraße: "Als Graffiti-Künstler weilte ich 2012 selbst im Gezi-Park, bei einem großen internationalen Kulturfestival. Für mich sind die Straßenkämpfe dort eine völlig unnötige Eskalation der Gewalt. Seit etwa drei Jahren wird in den sozialen Netzwerken Stimmung gegen die Regierung gemacht. Für mich ist das nicht nachvollziehbar. In den vergangenen zehn Jahren haben Erdogan und die AKP sehr viel erreicht. Die Türkei ist ein starker Wirtschaftsfaktor in der Region, die gesamte Infrastruktur hat sich enorm entwickelt. Und auch für ein friedliches Miteinander der Religionen wurde viel getan. Das Land ist auf einem guten Weg. Deshalb ist der Aufruhr für mich ein Protest ohne Inhalt, weil die Opposition keine konstruktiven Alternativen im Angebot hat. Erdogan nur vom Thron zu kippen, ohne klar zu sagen, was man wie anders machen will, ist einfach nur destruktiv. Das Gerede von der schleichenden Islamisierung geht bei einem muslimischen Bevölkerungsanteil von 90 Prozent ebenso ins Leere. Dass die Muslime unter Erdogan endlich ihre Religion leben können, halte ich für eine große Errungenschaft. Die diffuse Angst vor einer starken Türkei in Verbindung mit gewissen Komplexen spalten die Nation nur weiter, die gerade aus ihrer Vielfalt Kraft schöpft. Opposition ist natürlich wichtig, aber nicht so. Doch wie Erdogan jetzt mit ihr umgeht, ist auch nicht gut. Allerdings verzerren die Bilder der internationalen Medien auch das Bild: Wenn Polizisten mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen werden, muss sich die Staatsmacht zur Wehr setzen. Alles andere wäre die reine Anarchie."

Hasan Toprak, 49, kurdischer Kioskbesitzer: "Ich telefoniere fast jeden Tag mit Verwandten und Freunden in der Türkei und informiere mich den ganzen Tag mit meinem Laptop im Internet. Wie Erdogan die Proteste niederwalzen lässt, ist brutal und undemokratisch. Das kann er sich aber auch nur leisten, weil er die Führungspositionen bei der Polizei und im Militär längst mit eigenen Leuten besetzt hat.

Erdogans Umgang mit Andersdenkenden war aber auch schon vorher autoritär und intolerant. Laut seriösen Schätzungen hat er in den vergangenen Jahren rund 15.000 Menschen wegsperren lassen, nur weil sie wie ganz normale Menschen behandelt werden wollten. Dass er bei der letzten Wahl 50 Prozent aller Stimmen bekommen haben soll, war für mich nie realistisch. Gerade habe ich gehört, dass die Gewerkschaften zu Streiks aufgerufen haben, an denen sich landesweit mehr als 900.000 Mitglieder beteiligt haben. Das stimmt mich optimistisch."