Waldtheater nur für Jungs - und so ganz nebenbei vermittelt Deed Knerr dabei Sozialverhalten

Ramelsloh. In einem Gehölz nahe der Autobahnanschlussstelle Ramelsloh läutet Theatermacher Deed Knerr, 60, die nächste Runde im Geschlechterkampf ein.

Immer montags zieht er sich mit einer besonderen Kindertheatergruppe in den Wald zurück: Ausschließlich Jungen dürfen mit, wenn er Fährten lesen und Indianerstämme gründen lässt. Denn Jungs, sagt der Schauspieler, hätten eine andere Art, ihre Kreativität auszuleben als Mädchen. Die Kräfte zu messen und Körpereinsatz sind deshalb in der Waldtheatergruppe nur für Jungs ausdrücklich erlaubt.

Nach vielen Jahren intensiver Mädchenförderung warnen Bildungsexperten inzwischen davor, dass Jungen zu Bildungsverlierern würden. Früher haben Jungen in harmlosen Raufereien im Sandkasten spielerisch herausgefunden, wer der Stärkere ist. Heute wird so ein Verhalten sofort unterbunden. In Kindergärten und Grundschulen arbeiten meist Frauen - und die schlichten Streitereien ausschließlich mit der Kraft des Wortes. "Außer beim Fußball sind doch Jungs heute fast nur noch von Frauen umgeben", sagt Deed Knerr. Gewalt duldet er natürlich auch nicht, Körpereinsatz schon.

Jungen sind in Kinder- und Jugendtheatergruppen in der Regel in der Minderheit. Das ist an der Heyoka Theaterschule, die Deed Knerr mit seiner Frau Ines seit Anfang 2012 betreibt, nicht anders: Von den insgesamt 30 Kindern und Jugendlichen sind gerade einmal sechs Jungen.

Seit Februar existiert die Waldtheatergruppe für Jungen. Echte Kerle ziehen bei jedem Wetter los. Nur Weicheier kneifen. "Wenn es kalt ist, ziehe ich mir eine dicke Jacke an", sagt der acht Jahre alte Bennet mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit. Deed Knerr spricht die sechs Burschen im Alter von sieben bis neun Jahren so an, wie es Kerle nun einmal tun. Herb-freundlich eben. Eine eher niedliche Ansprache wie "Mäuschen, lass' das mal" gibt es in der Kerle-Runde bewusst nicht.

Wenn die Waldtheaterjungs für eineinhalb Stunden im Gehölz verschwinden, bauen sie aus Ästen Indianer-Unterkünfte oder suchen unter den Büschen nach Spuren. Das seien Dinge, die moderne Kinder heute eigentlich nicht mehr machten, so Deed Knerr. Dass die Knaben dabei auch mal in Matsch treten oder sich die Hose dreckig machen, akzeptieren ihre Mütter. "Die Eltern merken, dass wir etwas tun, das den Jungs gut tut", sagt Deed Knerr. Da zeigt sich die Mutter des acht Jahre alten Paul auch gelassen, als ihr Sohn gesammelte Hasenköttel aus der Hosentasche hervorholt.

In einem geschlossenen Raum täten sich Jungs schwerer als Mädchen eine Geschichte zu entwickeln, hat der Theaterchef beobachtet. Mädchen würden auch leichter zu einem Team zusammenfinden. Jungen dagegen müssten erst Freunde werden. Während Mädchen stringent im Team an einer kompletten Handlung arbeiten, bräuchten Jungen viel länger und entwickelten lieber einzelne Szenen. Im Wald dagegen entfalten die Jungen eine bisher nicht geahnte Kreativität. "Sie können klettern, etwas entdecken. Äste, Stöcke, Gerüche, das ist alles so unglaublich notwendig", schwärmt Deed Knerr von der Kreativität frei setzenden Kraft des Waldes. In dem Moment, in dem die Jungen das Gehölz beträten, seien sie geerdet. Paul, 8, erklärt das Phänomen weniger philosophisch: "Ich bin gern in der Natur", sagt er nur.

Die Waldtheaterjungs lernen keine fertigen Texte und ziehen keine Kostüme aus einem Fundus über. Die Kinder entwickeln ihre Rollen und Figuren selbst. Das ist die Philosophie der Heyoka Theaterschule. In ihrem ersten Stück schlüpfen die sechs Jungen in die Rollen von Indianern, die einen verletzten Wolf finden. Es entbrennt ein Streit darüber, ob das Tier gepflegt oder getötet werden soll. Die Kinder lernten nicht nur Theatertechniken, sagt Deed Knerr, sondern auch viel über die Natur, alte Völker und Tiere.

Der Theaterchef legt den Jungen beim Entwickeln der Szenen keine Zügel an. Nichts ist zu fantastisch, um nicht gespielt werden zu können. "Wir gehen als Indianer in eine Höhle und kommen als Star-Wars-Figuren wieder heraus", erzählt Bennet, was sich die Jungen an einem anscheinend besonders lustigen Tag ausgedacht haben. Aus Winnetou wird Anakin Skywalker - im Waldtheater ist alles erlaubt. Einen anarcho-humoristischen Ansatz nennt Deed Knerr das.

Figuren entstehen beim Herumtollen, die Texte kommen von ganz allein. Es entsteht eine neue Welt, eine neue Geschichte. Wer einen Elefanten spielen will, der Ballerina werden möchte, darf das tun. Die Heyoka Theaterschule ermutigt ihre Schüler, Texte und Situationen spontan zu erfinden und komische improvisierte Dialoge zu erschaffen. Der Name Heyoka steht für Clowns und Narren, die früher bei den Stämmen der Plainsindianern lebten. Sie halfen dabei, Spannungen innerhalb des Stammes abzubauen und von Sorgen abzulenken.

Deed Knerr arbeitete zunächst als Reprofotograf, als er im Jahr 1985 in Hamburg sein eigenes Theater gründete. Sein Straßentheater, das auf Improvisation und Komik beruhte, war zu dieser Zeit revolutionär, weil er für Irritation und Überraschung sorgte. Dazu passt sein ungewöhnlicher Vorname. Eigentlich heißt er Dieter. Aber eine Freundin verpasste ihm den Namen "Deed", weil er einen amerikanischen Freund namens "Piet" hatte.

Das war vor etwa 40 Jahren und seitdem ist es bei dem Rufnamen Deed geblieben.

Später entwickelte Deed Knerr, der nie eine Schauspielschule besucht hat, seine Bühne zu einem Unternehmenstheater fort, coachte auf diese Weise Führungskräfte. "Ich habe Manager getunt", beschreibt Deed Knerr diese Tätigkeit. Heute vermittelt er Kindern spielerisch soziale Fähigkeiten. "Das ist doch besser", sagt der Theatermacher aus Ramelsloh, " als sie Managern erst mit 40 beizubringen."

Fünf Kindertheatergruppen der Heyoka Theaterschule, darunter die Waldtheaterjungen, spielen am Sonntag, 16. Juni, 15 Uhr, im Ramelsloher Hof ihre eigenen Stücke und Szenen. Tickets im Vorverkauf (Erwachsene: 9,50 Euro, Kinder: 7 Euro) unter Telefon 04185/70 86 78.