Warum der Altenpfleger Jürgen Woscidlo Mädchen und Jungen der Grundschule Grumbrechtstraße für das königliche Spiel begeistert

Heimfeld. "Ach, Jürgen, du nervst", ruft der 10-jährige Caner. Keine zwei Meter weiter nörgelt nur wenig später die 14-jährige Somiya plötzlich: "Och, nö, Jürgen, du bist ja so gemein." Die spontanen Unmutsbekundungen legen den Verdacht nahe, Jürgen Woscidlo sei bei Kindern gänzlich unbeliebt. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Wenn der 46 Jahre alte Altenpfleger, der selbst Vater dreier Kinder zwischen fünf und zehn Jahren ist, in der Integrativen Grundschule Grumbrechtstraße an die Schachbretter bittet, strömen die Schüler in Scharen.

"Schach wird von Laien gern auf seine Grundfarben Schwarz und Weiß reduziert. Dabei ist das Spiel so bunt wie das Leben selbst", sagt Woscidlo im Brustton tiefster Überzeugung. Es gehe um Angriff und Verteidigung. Man müsse taktieren und kombinieren, könne gewinnen und verlieren. Vor allem aber biete es so unendlich viele Möglichkeiten, sein Spiel und damit sich selbst zu entwickeln.

"Schach schult nicht nur das Konzentrationsvermögen und das logische Denken. Es vermittelt den Kindern auch spezielle Kompetenzen, um sich in unserer globalisierten Welt besser behaupten, zurechtfinden und kommunizieren zu können", so Woscidlo. Schach weite den Blick zu neuen Horizonten und helfe, andere Kulturen zu verstehen. Dabei denkt er besonders an den zunehmend bedeutsamer werdenden asiatischen Raum. Wo von jeher immer neue Varianten des königlichen Spiels entwickelt wurden.

Gerade beschäftigen sich Woscidlo und seine Schützlinge im Schachlabor mit Co Tu Lenh, einem vietnamesischen Ableger. Entwickelt hat ihn Nguyen Qui Hai, ehemaliger Oberst aus Hanoi. Nicht ganz überraschend hat der Offizier Türme, Springer und Bauern durch militärische Waffengattungen ersetzt. In seiner Version stehen die Spielsteine unter anderem für Marine, Luftwaffe, Artillerie und Bodentruppen.

"Das hört sich jetzt vielleicht etwas martialisch an", sagt Woscidlo. Man dürfe aber nicht vergessen, dass auch das hierzulande bekannte Schach im Ursprung ein Abbild des Krieges gewesen ist: "Es ging schon immer ums Erobern und die Abwehr von Feinden." Übrigens auch bei den anderen asiatischen Varianten. So ist der König beim japanischen Schach Shogi ein Shogun, die Bauern sind Samurai. Beim chinesischen Schach XiangQi spricht man eher von General und Soldaten.

Mindestens 1000 verschiedene Schachvarianten soll es inzwischen weltweit geben. Woscidlos Schützlinge beherrschen in der Regel mindestens drei: neben dem (westlichen) Schach sind es die uralten und zum Teil deutlich älteren Vorläufer des Spiels, XiangQi und Makruk, das thailändische Schach. Jede Übungsstunde eröffnet und schließt Woscidlo mit einer Geschichte. Auf diese Weise haben die Schüler nicht nur etwas über die Bedeutung der Seidenstraße für den intensiven Austausch zwischen Orient und Okzident gelernt. Sie wissen jetzt auch, warum das Trojanische Pferd beim Sieg der Griechen über die Trojaner eine entscheidende Rolle spielte.

Viel wichtiger sind Woscidlo unterdessen die internationalen Kontakte, die seine Schützlinge durch das Schach in alle Teile der Welt knüpfen können. So steht in der kommenden Woche erneut ein Internetwettkampf mit einer Schule im kolumbianischen Bucaramanga auf dem Programm.

Im April war gerade eine Delegation einer Schule aus der Partnerstadt Shanghai in Heimfeld zu Gast, zu der auch ein veritabler Großmeister im XiangQi gehörte. "Der sprach kein Wort Deutsch und auch nur sehr schlecht Englisch", berichtet Woscidlo. Dennoch hätten sich der Großmeister und die neugierigen Schüler sehr gut verständigt und intensiv ausgetauscht.

"Unser Konzept dürfte in Hamburg, ich denke sogar deutschlandweit einzigartig sein", sagt Schulleiter Rainer Kühlke. Er unterstützt die Schach-AG seit fünf Jahren wo er nur kann und wünscht sich eine noch stärkere Einbindung in den regulären Unterricht. Besonderer Höhepunkt sei seit 2010 das Schuljahresabschlussturnier in der Pausenhalle, an dem stets mehr als 60 Schüler aller Altersstufen in den bevorzugt gespielten Schacharten teilnehmen würden. Zudem organisiert die AG gemeinsam mit dem Schachclub Diagonale ein Simultanturnier beim Stadtteilfest und entsendet selbst immer wieder Teams zu anderen Turnieren.