Lüneburger Paar lässt fast 200 Jahre alte Tapete restaurieren. Allein das Abnehmen der Bemalung dauert sechs Monate

Lüneburg . Wenn in 200 Jahren jemand das Haus an der Neuen Sülze 2 in Lüneburg restauriert, findet er in einem Loch in der Wand des Saales im ersten Stock einen Gruß auf säurefreiem Papier - er stammt aus dem Jahr 2013. Fünf Frauen haben ihn geschrieben. Das "Team Tapete" sorgt dafür, dass eine Landschaftstapete aus dem frühen 19. Jahrhundert bald wieder so aussieht wie zur Zeit ihrer Entstehung. Denn das hat sie die vergangenen Jahrzehnte nicht.

Rotraut Kahle möchte das ändern. Gemeinsam mit ihrem Mann hat die Wahl-Lüneburgerin das Bürgerhaus von 1694 vor gut zehn Jahren gekauft und ein umfangreiches Restaurierungsprojekt angeschoben. Dem Ehepaar liegt viel daran, ihr Haus als das zu erhalten, was es einst war und in Teilen immer noch ist - ein Beispiel bürgerlichen Wohnens im 19. Jahrhundert. Außer dem Hauptgebäude gehören Waschhaus, Remise und Kutscherhaus dazu, dahinter liegt mitten in Lüneburgs Altstadt ein eindrucksvoller Landschaftsgarten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts mit 150 Jahre alter Platane und Pavillon.

Und im ersten Stock hängt eine Landschaftstapete, wie es sie in dieser Form nur noch drei Mal in Deutschland gibt. Zwischen 1815 und 1827 auf 20 einzelnen Bögen in der Tapetenmanufaktur Zuber im Elsass gedruckt, zeigt die "Grande Helvétie" Bilder aus der Schweiz: Eiger, Mönch und Jungfrau, einen Kuhabtrieb von der Alm und Szenen des Unspunnenfestes in Interlaken. Zwischen Schweizer Berge und Wälder ist nach dem Zweiten Weltkrieg auch der Lüneburger Kalkberg gerutscht, und aus dem hellblauen Himmel wurde ein dunkelgrauer - aber dazu später.

Lange haben sich die Kahles um Förderungen für die sehr aufwendige Tapetenrestaurierung bemüht, neben erheblichen Eigenmitteln finanzieren die Arbeiten jetzt die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, die Niedersächsische Bingo-Umweltstiftung, das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege und die Niedersächsische Sparkassenstiftung. "Alleine kann das niemand leisten", sagt Rotraut Kahle, die seit Oktober eine Untermieterin im Dachgeschoss hat: Stephanie Keinert aus Münster in Westfalen.

Die 28-Jährige ist Gemälderestauratorin und wohnt derzeit für ein paar Tage pro Woche in Lüneburg. Unter der Leitung von Tabea Modersohn arbeitet sich Stephanie Keinert per Wattebausch ins 19. Jahrhundert zurück - durch mindestens fünf verschiedene Farbschichten. Als wir sie besuchen, steht sie gerade auf einem Gerüst in Höhe des Himmels. Sie knüllt Haushaltswatte zu einem Bausch, tunkt ihn in destilliertes Wasser, wischt graue Farbe von der Tapete und tupft mit trockenem Wattebausch nach. "Ich darf auf keinen Fall tropfen", erklärt die Fachfrau, "dann löst sich die weiße Farbe der Wolken." Jede Farbschicht hat ihre eigene Art, die eine ist mit Wasser zu lösen, die andere nur mechanisch, die eine ist filigran, die andere robust. "Wir sind Forscher und Ingenieure", sagt Stephanie Keinert. Schließlich müssen sie alle paar Dezimeter das Werkzeug und die Technik wechseln.

In der anderen Ecke des Saals steht Tabea Modersohn, 33, auf dem Trittbrett einer Leiter. Über der Nase eine Atemschutzmaske, in der Hand ein Skalpell, schabt die Urenkelin des Malers Otto Modersohn aus Fischerhude bei Bremen Millimeter für Millimeter türkise Farbe vom Himmel. "Relativ zügig" geht das beim Türkis, sagt die Diplom-Restauratorin mit Fachrichtung Papier und Grafik. "Relativ" bedeutet in diesem Fall wirklich relativ - allein die Abnahme der Übermalung dauert ein halbes Jahr.

Tabea Modersohn hat an der Fakultät Erhaltung von Kulturgut der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Hildesheim studiert, für den Auftrag in Lüneburg arbeitet die Projektleiterin mit drei ehemaligen Kommilitoninnen zusammen. Seit Oktober arbeiten die vier Frauen in dem Saal, wo Anfang des 19. Jahrhunderts französische Offiziere speisten und sich die Generalleutnantin Caroline von Wangenheim im Jahr 1837 ein Stück Schweiz nach Norddeutschland geholt hat.

Gudrun Kühl arbeitet sich derweil per Skalpell durch die Wolken: "Würde ich hier mit Feuchtigkeit arbeiten, würden sich Grau und Weiß vermischen", erklärt die 27-Jährige. "Abschleifen geht nicht, weil die Tapete Höhen und Tiefen hat. Wir müssen neugierig und erfindungsreich sein." Den Pinsel über dem Kopf arbeitet sich Petra Novotny auf einem Gerüst stehend an der Decke vorwärts. Die 45-Jährige retuschiert einen Strahlenkranz, der auf die Saalmitte zuläuft, hat dafür Leimfarbe in vier Tönen angemischt. "Die Arbeit ist unglaublich spannend, dazu die Geschichte des Hauses: Einfach toll."

Der Himmel über der Schweiz in Lüneburg war 1837 hellblau, wissen die Restauratorinnen. Später türkis, dann wieder blau, und 1946 ließen die damaligen Hausbesitzer Himmel und Decke zweimal grau überstreichen - vermutlich aus Trauer um den im Krieg gefallenen Bruder der Frau. Im selben Arbeitsgang geriet auch der Lüneburger Kalkberg ins Schweizer Panorama: in eine Lücke, wo vorher Schrank und Ofen gestanden hatten.

Im Sommer wollen die Frauen mit ihrer Arbeit fertig sein - und die Zeit in dem Lüneburger Saal ins Jahr 1837 zurückgedreht haben. Ihre Nachfolger in vielen, vielen Jahren werden das erfahren - wenn auch sie bei einer Restaurierung das Loch in der Wand entdecken.