Das Boßeln, liebstes Spiel der Norddeutschen, erlebt einen Boom. Nicht nur, weil Bier und Schnaps im Wettkampf zur Grundausstattung gehören

Otter/Neu Wulmstorf. Jetzt, da sich die Frühlingstemperaturen so langsam ankündigen, zugleich aber das Gras noch nicht so hoch gewachsen ist, ist die beste Zeit: Die Boßelkugel wird hervorgekramt und der Bollerwagen entstaubt. Mehr und mehr Norddeutsche schieben eine ruhige Kugel - und zwar am liebsten auf abgelegenen Feldwegen. Julia Schulte to Bühne, Geschäftsführerin des niedersächsischen Heimatbundes, hat ein gestiegenes Interesse an regionalen Bräuchen wie etwa dem Boßeln festgestellt. "Die Menschen haben wieder Spaß an der Tradition", sagt sie. "Sie wollen vielleicht was anderes machen als Fußball spielen und stoßen dann auf das, was die Großeltern schon immer gemacht haben."

Auch Didi Gerdes, 73, aus Neu Wulmstorf, der gebürtig aus Ostfriesland kommt und allein schon deshalb so etwas wie ein Boßel-Experte ist, wird immer häufiger kontaktiert. Familien, Vereine und Firmen bitten den Mann, der seit 20 Jahren die Boßelabteilung im TVV Neu Wulmstorf leitet, um Tipps und Tricks für den Friesensport oder wollen sich einfach nur Boßelkugeln ausleihen. "Das Boßeln hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr in den Landkreisen Harburg und Stade ausgebreitet, wie ein kleiner Flächenbrand ", sagt Didi Gerdes.

Was also ist das Faszinierende an dem Sport? Zwar kann das Boßeln in etwa mit dem Kegeln oder Bowlen verglichen werden, aber so ganz trifft es das nicht. Denn etwas eigenartig ist der traditionelle friesische Volkssport schon. Das Spielfeld ist die Straße. Und es ist wohl die einzige Sportart, bei der Schnaps- und Bierflaschen quasi zur Grundausstattung gehören. Ziel des traditionsreichen Sportspiels ist es, mit möglichst wenigen Würfen die schweren Kugeln am weitesten zu werfen. Zwei Mannschaften treten gegeneinander an. Je Gruppe gibt es fünf Werfer und einen Mannschaftsführer, der die Anzahl der Würfe der gegnerischen Mannschaft notiert.

"Lustig ist es eigentlich immer", sagt Uwe Heinrichs, 45, zweiter Vorsitzender des Pfeifenclubs "Blauer Dunst" aus Otter. Der Club veranstaltet jedes Jahr im Frühjahr und im Herbst Boßelturniere, bei dem die Teilnehmer den etwa acht Kilometer langen Otterberg umrunden müssen. Acht Getränkestände gibt es an der Strecke, an dem pro Turnier Getränke im Schätzwert von 2000 Euro verzehrt werden. Zwischen 50 und 60 Mannschaften nehmen am Turnier in Otter in der Regel teil. Heinrichs weiß so manche Anekdote zu erzählen - von verschwundenen Kugeln oder solchen, die im Graben landen von missglückten Rettungsversuchen, bei denen die Werfer am Ende selbst nass wurden. Doch es gibt auch Mannschaften, die mit sportlichem Eifer an die Sache herangehen, etwa die Boßelabteilung des TVV Neu Wulmstorf. Die Männer vom Pfeifenclub aus Otter nennen sie Profis. Sie selbst würden sich aber nie als solche bezeichnen.

"Wir haben nur den Profi-Stempel aufgedrückt bekommen", sagt Didi Gerdes. "Profis sind aber nur die, die an den offiziellen Turnieren des Klootschießer-Verbandes teilnehmen." So weit geht der sportliche Ehrgeiz dann doch nicht. Aber seine Sportabteilung trainiert alle 14 Tage. Und so sind die Boßeler in der Lage, beispielsweise die Strecke in Otter in acht, neun Würfen zu schaffen - wenn es gut läuft. Ihr Erfolgsrezept: die Straße lesen wie der Golfer das Grün. Davon hängt dann auch die Wurftechnik ab. Wenn man es auf den Pokal abgesehen hat, reicht es nicht, Anlauf zu nehmen, den Arm weit nach hinten zu schwingen und dann die Kugel mit Schmackes nach vorne zu werfen. Bevor die Boßelkugel geworfen wird, geht ein Bahnweiser vor. Er liest die Straße und gibt dann Kommandos. Fällt die Straße nach rechts ab, muss der Kugel ein Linksdrall mitgegeben werden. "Der Ostfriese sagt dazu Över lütje Finge", sagt Gerdes. Fällt die Straße nach links ab, muss die Kugel einen Rechtsdrall bekommen - dann wird also över Dum geworfen. Und so bringen die Boßeler aus Neu Wulmstorf in den meisten Turnieren mindestens den zweiten Platz nach Hause.

Einer der Profiteure des aufkeimenden Boßelbooms: Die Firma Polytechnik Blumenthal in Burweg (Kreis Stade). Klaus Baumgarten, Inhaber der Firma, kann sich über einen reißenden Absatz seiner Boßelkugeln freuen. 1987 ging er mit dem Produkt auf den Markt und gründete die Gummiformerei und Vulkanisieranstalt einzig und allein, um Boßelkugeln herzustellen. 2009 stellte er noch 500 Kugeln pro Jahr her. Inzwischen ist der Absatz auf 700 Kugeln angewachsen.