Zweimal hat die Puccini-Oper “Madama Butterfly“ in dieser Spielzeit Premiere gefeiert: in Lüneburg und in Hamburg

Lüneburg/ Hamburg . Es ist die Geschichte eines Missverständnisses. Zwischen zwei Menschen, zwei Lebenswelten, zwei Kulturen. Der Italiener Giacomo Puccini hat seine Oper "Madama Butterfly" (1904) in Japan spielen lassen, es ist die tragische Geschichte einer von vornherein zum Scheitern verurteilten Verbindung eines amerikanischen Marinesoldaten (Pinkerton) zu einer jungen japanischen Geisha (Cio-Cio San, genannt Butterfly). Sowohl am Theater Lüneburg als auch an der Staatsoper Hamburg haben in dieser Spielzeit neue Inszenierungen Premiere gefeiert. Ein Vergleich.

"Hier ist alles flexibel", sagt der Yankee in Japan, er werde "japanisch heiraten", "für 999 Jahre" mit "monatlichem Kündigungsrecht". Ob es Liebe oder Laune sei, sagt der Bräutigam, wisse er nicht. Die Warnungen des Konsuls, das Herz des blutjungen Mädchens nicht zu brechen, schlägt er in den Wind.

Eine Wendeltreppe ist das Zentrum von Vincents Lamaires Bühne in Hamburg. Sie kommt aus dem Nichts und führt ins Nichts: aus unbekanntem Untergrund in unsichtbare Höhe. Auf dem Boden Blütenblätter und ein Pinkerton, den Regisseur Vincent Boussard in weißer Marineuniform Whisky trinkend seine Braut erwarten lässt.

Bilden in Hamburg Mohnblumen den Hintergrund, ist es bei Stefan Rieckhoff in Lüneburg eine Fläche für Videoprojektionen: vom rauschenden Meer (der Aufnahmeort wird nicht verraten) über einen blühenden Kirschbaum und den Sternenhimmel bis zur amerikanischen Flagge. Pinkerton trägt in Lüneburg zu Beginn Blau, nicht Weiß, und raucht nervös Zigaretten, bevor er zum Whisky greift. Der Boden ist ein Bett aus weißen Blütenblättern - Geishas wohnen in sogenannten Blumenvierteln, ihr Lohn wird Blumengeld genannt.

Wenn in Hamburg die Hochzeitsgäste die Bühne betreten, beschränken sich die Sinneswahrnehmungen des Besuchers auf eine einzige. Christian Lacroix hat Kostüme geschaffen, die sämtliche Sinneswahrnehmungen schwinden lässt: Das Auge sieht, das Ohr wird taub.

Als Cio-Cio San für die erste Nacht mit dem Mann, den sie für einen Ehemann fürs Leben hält, in Hamburg ihre Haarfrisur löst und ihren Kimono auszieht, blitzt auf ihrer blassen Haut ein Kreuz, das Symbol der christlichen Kirche, das Symbol ihrer bedingungslosen Hingabe: Selbst die Religion wechselt sie für Pinkerton. Einen Kimono wird sie danach nie wieder anziehen. Ihre Haare hochstecken auch nicht.

Auch Lüneburgs Geisha trägt unter ihrem Kimono ein Kreuz als Bekenntnis zu Pinkertons Kultur, auch sie lässt Regisseur Hajo Fouquet die Haare später nicht mehr zur Geishafrisur hochgesteckt tragen.

Wohl aber auch nicht wild-offen wie in Hamburg - so weit mag die Lüneburger Cio-Cio San dann doch nicht gehen. Das stark geschminkte Weiß ihres Gesichts ist in den drei Jahren der Einsamkeit verblasst, mit Pinkertons blauer Uniformjacke verkleidet sich die Geisha als Amerikanerin. Und bleibt doch Japanerin: Sie trägt dasselbe Unterkleid wie zu Beginn - der Stoff auf ihrer Haut als Konstante ihres Lebens.

Als Pinkerton im zweiten Akt zurück in den USA ist, sitzt Butterfly, der gefangene Schmetterling, in Hamburg kniend auf der Armlehne eines monströsen Club-Ledersessels - einsamer kann ein Mensch nicht sitzen. Butterfly trägt ein dünnes Shirt und enge Jeans. Sie lebt isoliert auf spiegelglattem Boden, zu erreichen nur über die Wendeltreppe. Doch niemand kommt. Nur eine Puppe steht auf den Treppenstufen, eine Puppe in weißem Matrosenanzug. Ihr Kind. Sein Kind. Aus dem gemeinsamen Sohn aus dem Libretto macht Vincent Boussard in Hamburg eine Obsession, einen Wahn. Kein Kind betritt je als Komparse die Bühne, immer nur sind es Puppen, mit denen die eingebildete Mutter spricht, spielt. Ein ganzer Schrank voller Puppen.

In Lüneburg wählt Hajo Fouquet den umgekehrten Weg, das Kind aus dem Libretto ist ein Kind aus Fleisch und Blut, das im blauen Matrosenhemd still mit Modellschiffchen spielt und seine Mutter tröstet.

Als Pinkerton im dritten Akt mit seiner (sowohl in Hamburg als auch in Lüneburg) maximalblondierten amerikanischen Frau zu seiner dünnhäutigen japanischen Interimsbraut zurückkehrt, da ist sein Anzug in Hamburg nicht mehr weiß, sondern schwarz. In Lüneburg ist er nicht mehr blau, sondern weiß.

Und die zum Fest seiner Rückkehr zusammengesuchten Blüten haben sich in Lüneburg zu einem unbezwingbaren Gebirge aufgetürmt, dessen Anblick den jetzt nach amerikanischem Recht Verheirateten in eine Pose fallen lässt, die die Geisha fast durchgehend im ersten Akt eingenommen hatte: auf dem Boden kniend.

Für ihr selbst gewähltes Lebensende im dritten Akt kehrt die Japanerin, die so gerne Amerikanerin wäre, in Lüneburg zur eigenen Tradition zurück: Sie legt ihren Kimono aus dem ersten Bild an und wählt ein Messer, das Messer, das bereits ihr Vater benutzte - und über das Meer flattert ein blauer Schmetterling.

In Hamburg folgt Butterfly der Logik ihres kompletten Kultursprungs, legt das Schwert ihres Vaters zur Seite - und stirbt fürs Publikum unsichtbar.