Fremdenführer in Lüneburg sind inzwischen auch im Februar unterwegs, eine Winterpause gibt es nicht mehr

Lüneburg. Es ist nicht lange her, da zeigte die Kurve der Lüneburger Touristenzahlen zwar erfreuliche Spitzen im Juni, August und Dezember - doch empfindliche Dellen im Januar, Februar und März. Vorbei. Geführte Gruppen gucken sich gerade die Giebel der Altstadt an, als wäre längst Frühling. "Lüneburg kennt keine Saison mehr", sagt Stefan Pruschwitz, Marketingchef der Backsteinstadt. Während andere Städte in Norddeutschland die nächste Touristensaison erst vorbereiten, ist Lüneburg schon mittendrin.

Null Grad, grauer Himmel, ein Hauch von Schnee liegt auf den roten Dachziegeln. Ein Vormittag mitten in der Woche, kein Feiertag, kein Brückentag. Hinter dem Lüneburger Rathaus stehen Menschen mit Schals um den Hals und sehen sich neugierig um. "Hier sehen wir die Kirche mit den schiefen Säulen", sagt einer von ihnen und zeigt mit warm eingepacktem Finger auf St. Michaelis, die mitten im Lüneburger Senkungsgebiet steht und in ihrer Innenkonstruktion dementsprechend schief ist.

Der Mann mit den dicken Handschuhen heißt Kurt Bergann, ist 80 Jahre alt und seit mehr als 20 Jahren Stadtführer in Lüneburg. Seit er wegen eines Unfalls nicht mehr in seinem alten Beruf arbeiten konnte. Der fröhliche Senior liebt es, die Touristen mit unerwarteten Informationen zu überraschen, regelmäßig, ohne Voranmeldung, auch im Februar.

Das war nicht immer so, sagt Stefan Pruschwitz, Geschäftsführer der städtischen Marketing GmbH. "Früher haben wir den Januar bis März genutzt, um Überstunden abzubauen oder Urlaubstage zu nehmen. Das waren tote Monate. Jetzt kommen die Mitarbeiter nicht mehr vom Telefon weg." Entgegen dem Trend zu kurzfristigen Buchungen reservieren die Anrufer schon zu dieser Jahreszeit Hotelzimmer für den Frühsommer, die Heideblüte und den Weihnachtsmarkt.

Wer die Stadt in Winterruhe erleben will, kommt jetzt. Wie Max Müller aus Stuttgart. Gebürtig aus dem Kreis Stormarn, wollte der Wahl-Stuttgarter dem Trubel zu Hause entfliehen und ist für ein paar Tage nach Lüneburg gereist. "Ich war vor 60 Jahren schon mal hier, mit meiner Schulklasse", erzählt der Rentner, als er sich ein Ticket für eine Rathausführung kauft.

Denn während Kurt Bergann Gäste durch die Altstadt führt, ist Janine Jüntschke auf diese Weise im Rathaus aktiv. Sie ist die neue Touristenfängerin" der alten Salzstadt. Wenn die 25-Jährige wählen könnte, wo sie wohnen will - sie würde ins Lüneburger Rathaus ziehen. Der Komplex aus 256 Räumen und 700 Jahren Baugeschichte fasziniert die frisch gebackene Uni-Absolventin so sehr, dass sie am liebsten einen Koffer packen und jeden Morgen hinter 600 Jahre alten Buntglasfenstern frühstücken würde.

Ursprünglich aus Salzgitter, hat sich die Kulturwissenschaftlerin dermaßen heftig in ihre Studienstadt verguckt, dass sie nicht nur dort leben und arbeiten, sondern sie auch Besuchern zeigen möchte. Und jetzt ist sie Lüneburgs neue offizielle Rathausführerin. "Das ist ein großes Glück", sagt die junge Frau mit den langen blonden Haaren ehrfürchtig. "Ich entdecke jeden Tag etwas Neues, könnte ständig hier sitzen und einfach nur gucken." Und das Entdeckte dann ihren Gästen zeigen. Bei mehr als 500 Menschen hat sie das schon getan - allein im Januar.

Sieben Millionen Tagesbesucher zählt Lüneburg im Jahr, 300.000 Übernachtungen. Vor zehn Jahren waren es noch 100.000 Übernachtungen weniger, und die seit Jahren in allen Bereichen steigenden Zahlen lassen die Kapazitäten mittlerweile an ihren Rand kommen: Es gibt zu wenig Busparkflächen und zu wenig Wohnmobilstellplätze, und während der Heideblüte im August ist die Stadt schlicht und ergreifend ausgebucht.

Lüneburg liegt zwar 45 Autominuten vom Zentrum der gleichnamigen Heide entfernt, aber im Tarifgebiet des Hamburger Verkehrs-Verbunds. Und die Metropole an der Elbe ist für die Kleinstadt an der Ilmenau der "Megamagnet", wie es Marketingmann Pruschwitz sagt. "Wir profitieren sehr davon, dass die Leute auf ihrem Weg nach Hamburg einen Kurzaufenthalt in Lüneburg einlegen." Zweiter starker Magnet ist seit 2006 eine Fernsehserie, die in der Stadt gedreht wird: "Rote Rosen" sehen täglich 1,6 Millionen Menschen in der ARD - und immer mehr davon wollen sich die Drehorte in Realität ansehen.

Um die Nachfrage an Stadtführungen bewältigen zu können, zählt der Verein Lüneburger Stadtführer mittlerweile mehr als 50 aktive Mitglieder. 5200 Gruppen zeigten sie vergangenes Jahr die Stadt - vor zehn Jahren waren es gerade mal 3000. "Besonders sonnabends kennen wir keine Winterzahlen mehr", sagt der Marketingchef. "Derzeit laufen zwei bis drei Gruppen parallel durch die Stadt, das kannten wir sonst nur aus der Saison." Allein für Januar zählt die Statistik schon 1105 Personen, die sich Lüneburg geführt angesehen haben.

Und der Trend geht in Richtung Erlebnis: verkleideten Nachwächtern, die abends durch die Gassen führen, kostümierten Herzoginnen, die von Emanzipation berichten oder natürlich Touren zu den Drehorten der TV-Serie.

Erika und Peter Leßmann haben an diesem Vormittag im Februar schon ihre zweite Stadtführung in Lüneburg mitgemacht., die erste vor ein paar Jahren. "Die Stadt ist einfach wunderschön", begründen die Berliner die Wiederholung. "Und bei jeder Führung erfahren wir etwas Neues." Zum Beispiel, dass die Säulen der Kirche St. Michaelis um sage und schreibe 70 Zentimeter schief stehen.