Der komponierende Rechtsanwalt Hinrich Rodatz aus Winsen ergänzt Noten-Fragmente berühmter Klassik-Komponisten.

Winsen. Was wäre gewesen, wenn Ludwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart länger gelebt hätten und der Welt weitere Kompositionen geschenkt hätten? Für Musikliebhaber ist das eine fantastische Vorstellung. Ein Komponist aus Winsen belässt es nicht bei dem Gedankenspiel und entwickelt das Werk der Meisterkomponisten fort. Hinrich Rodatz hat Mozarts berühmte Serenade "Kleine Nachtmusik" zu einem Orchesterwerk erweitert. Zurzeit arbeitet er daran, aus Beethovens Fragmenten zur zehnten Sinfonie ein Werk in fünf Sätzen zu schaffen.

Im Gegensatz zu vielen Hörern klassischer Musik, die meinen, jeden Ton dieser Epoche zu kennen, hält Hinrich Rodatz das Werk der genialen Komponisten für ergänzungswürdig. Ihn reizt nicht die Frage, ob das Orchester ein bekanntes Werk mehr oder weniger gut umgesetzt hat. Der 72-Jährige sieht vielmehr seine Herausforderung darin, Fragmente der Lebenswerke dieser Komponisten zu ergänzen.

Beethovens Sinfonie Nr. 10 ist ein solches Fragment. Kurz vor seinem Tod hat der große deutsche Komponist noch daran gearbeitet, diese aber nicht vollendet. Nur Skizzen und Notizen aus den Jahren 1822 bis 1825 hat er hinterlassen. Hinrich Rodatz hat seine eigene Theorie, warum die Sinfonie unvollendet blieb. "Beethoven hat nach der neunten Sinfonie keine Möglichkeit der Steigerung von Orchestermusik gesehen und es deshalb bei den Fragmenten belassen", sagt er.

In seinem Reihenhaus nahe der Winsener Altstadt betreibt Hinrich Rodatz seine Rechtsanwaltpraxis. Im Keller das Büro, unter dem Dach das Klavier. Paragrafen sind sein Broterwerb, Noten seine Leidenschaft. Sieben Jahre lang war der komponierende Advokat an der Hamburger Musikhochschule als Gasthörer eingeschrieben. Dort lernte er Christoph Rolfes kennen, der vor kurzem das Examen zum Dirigenten abgeschlossen hat. Schon länger arbeitet Rodatz mit dem Dirigenten Johann Holzer zusammen. Das Trio bemüht sich, den Beethovenschen Stil zu erreichen und versucht sich an der Vollendung der zehnten Sinfonie.

Es ist nicht neu, was Rodatz und seine Mitstreiter ins Werk setzen. Der Engländer Barry Cooper veröffentlichte im Jahr 1988 eine "zehnte Sinfonie" in einem Satz, die auf Beethovens Skizzen basieren. Diese Version hat es schon mehrfach zu verschiedenen CD-Aufnahmen gebracht. Nun versuchen sich Rodatz und zwei Dirigenten an der Ergänzung und Rekonstruktion. "Hinrichs Symphonie 5. Satz" hat Johann Holzer als Arbeitstitel über die Notenblätter geschrieben.

Mit dem Slogan "Lieber zum alten Fuchs" wirbt Hinrich Rodatz für seine Rechtsanwaltspraxis. Der 72-Jährige macht seine Lebensreife zur Tugend, positioniert sich als erfahrener Rechtsanwalt, der Mandanten in verzwickten Fällen hilft. Die Liebe zu den Meistern der Klassik sieht Hinrich Rodatz nicht als Nostalgie, sondern als kulturellen Anreiz an. Heutige Komponisten würden nur noch nach neuen Klanggebilden suchen, sagt der Winsener. Dabei bleibe der Hörgenuss auf der Strecke. Für dieses Phänomen hat Hinrich Rodatz einen Begriff erfunden: "Stacheldrahtmusik" nennt er diese sperrigen Klanggebilde.

Hinrich Rodatz vertritt die Theorie, das die Musik auf drei Beinen fußt: Komposition, Interpretation und Konsumtion. "Wenn nicht konsumiert wird, ist die Musik tot", sagt er. Schlagermusiker wüssten das nur zu genau. Abba, eine der erfolgreichsten Pop-Bands der Welt, habe ihre Lektion aus der Klassik gelernt. Die schwedischen Hitproduzenten hätten klassische Anleihen getätigt. "Abba hat so den Pop vorangetrieben", sagt Rodatz.

Vor 260 Jahren war Klassik Unterhaltungsmusik. Im übertragenden Sinne Pop also. Das Jahr 1750 brachte in der Musik einen großen Umbruch. Barock und das Cembalo waren gestern. Das temperierte Hammerklavier eröffnete Komponisten neue Möglichkeiten. Die Dynamik nahm einen größeren Raum ein.

Wenn Hinrich Rodatz 263 Jahre später diesen Stil adaptiert, könnte das antiquiert wirken. "Das Ganze muss Qualität bieten", sagt er, "darf nicht wie ein billiger Abklatsch wirken." Sein Ehrgeiz sei es, unter Kennern Akzeptanz zu erhalten..

Hinrich Rodatz komponiert am Computer - und lobt den Klang des digitalen Gehilfen: Die Elektronik sei schon recht nahe am Original. Hinrich Rodatz ist kein Klangästhet, der auf eine Stradivari beharrt. "Sonst würde ich ja nichts zustande kriegen", denkt er ganz pragmatisch. Wer kann schon einen teuren Orchestermusiker engagieren? Im Computer erzeugte Musik sei bei den Komponisten an der Hochschule üblich.

Hinrich Rodatz sagt von sich, er habe das innere Ohr. "Morgens im Halbschlaf habe ich ganze Sinfonien im Kopf.", sagt er. "Wenn ich aufstehe, sind sie wieder vergessen", fügt er ernüchternd hinzu. Am Tage schössen ihm dann einzelne Fragmente wieder in den Kopf. Diese verwandelt der Komponist dann später in Noten.

Wenn er Musik träumt - wäre er dann nicht lieber Musiker als Rechtsanwalt geworden? "Nein", winkt Hinrich Rodatz an und wirkt erschrocken bei dieser Vorstellung. "Ich möchte nicht wie Mozart gelebt haben. Mit diesen Entbehrungen zu Lebensende und ganz zu schweigen von der kurzen Lebenserwartung."

Das TNT Theater in Lüneburg, eine freie Avantgarde-Bühne, bietet Hinrich Rodatz am Freitag, 8. März, 19 Uhr, ein Forum. In einem Vortrag wird Hinrich Rodatz seine Kompositionen in Wort und Musik vorstellen.