Der Stadtteil Wilhelmsburg verändert sich, behauptet Buchhändler Detlef Lüdemann. Bildungsbürger halten Einzug auf der Elbinsel.

Wilhelmsburg. Der einzige Buchhändler in Wilhelmsburg hat nach eigenen Angaben in diesem Jahr mehr Bücher verkauft als jemals zuvor. Den Grund dafür sieht Detlef Bede Lüdemann in Neubürgern in dem sich rasant verändernden Stadtteil. Die in den 1990er-Jahren noch stigmatisierte Elbinsel erlebt einen Imagewechsel und einen Wandel, der alteingesessene Milieus verdrängt. Nicht selten hört Detlef Lüdemann Kunden sagen: "Hier gibt es eine Buchhandlung, da kann es nicht so schlimm sein in Wilhelmsburg!"

Aus der Mittelschicht, nicht ganz jung, eine Gruppe von Menschen, die früher nach Eimsbüttel oder Ottensen gezogen wäre und heute Wilhelmsburg als lebenswerten Stadtteil einschätzt - so beschreibt Wilhelmsburgs einziger Buchhändler die neu gewonnene Kundschaft. Detlef Lüdemann hat im Jahr 1983 seinen Buchhandel im Reiherstiegviertel eröffnet. Damals, erinnert er sich, zählten fünf Lehrer zu seiner Kundschaft. Heute seien es 50 aus dieser Berufsgruppe. Lehrer an Wilhelmsburger Schulen hätten früher nicht dort gewohnt. Das habe sich geändert.

"Zufriedenheit und Stolz, Wilhelmsburger zu sein, haben zugenommen", sagt Detlef Lüdemann. Der heute 55-Jährige kennt noch die Zeit, als die Menschen im übrigen Hamburg der Meinung waren, am S-Bahnhof in Wilhelmsburg solle man besser nicht aussteigen. Das Imagetief erreichte im Jahr 2000 den Tiefpunkt, als zwei Pitbull-Terrier den sechs Jahre alten Jungen Volkan tot bissen. Die Kampfhund-attacke fand bundesweit in den Medien Beachtung und verfestigte das Bild Wilhelmsburgs als düsterer Hinterhof Hamburgs.

Seit acht Jahren verändern Internationale Bauausstellung und Internationale Gartenschau den Stadtteil Wilhelmsburg rasant. Stadtplaner, Architekten und Investoren, nicht selten die Stadt Hamburg oder städtische Wirtschaftsunternehmen selbst, beschleunigen einen Wandel, der sich normalerweise in einem halben Jahrhundert vollziehen würde. Gentrifizierung heißt diese Art von Aufwertung mit dem Phänomen, dass alteingesessene Bevölkerungsgruppen von Besserverdienenden verdrängt werden.

"Die Grundeigentümer sind wach geworden", beobachtet auch Detlef Lüdemann. Die Mieten steigen im Stadtteil. "Wie überall in Hamburg", fügt er hinzu. Detlef Lüdemann, der im Reiherstiegviertel lebt, der lebendigen und beliebtesten Adresse in Wilhelmsburg, vermag nicht zu erkennen, dass die Internationale Bauausstellung allein die Mietpreise exorbitant in die Höhe schießen lasse.

34,2 Prozent der Wilhelmsburger sind Migranten. In Gesamt-Hamburg liegt der Anteil bei nur gut 15 Prozent. Diese Zahlen nennt die Kulturanthropologin Kerstin Schäfer in ihrem Buch über die wichtigste Buslinie in Wilhelmsburg, von den Einheimischen liebevoll und literarisch zugleich "Die Wilde 13" genannt. Gehen in einem so ausländerstarken Stadtteil eigentlich andere Bücher über den Ladentisch als woanders in Hamburg?

Bücher lese, wer dies von der Kindheit an gewohnt sei. Und diese Tradition gebe es bei den Migranten selten, sagt Wilhelmsburgs einziger Buchhändler. Etwa jeder fünfte Kunde habe Migrationshintergrund. Sie kommen ursprünglich aus der Türkei, Italien, Afghanistan. Sie läsen genau so viel wie die übrigen Kunden. Er kenne Kinder von afghanischen Eltern, die jetzt sogar selbst Bücher schreiben. "Buchkäufer", sagt Detlef Lüdemann noch, "sind seit eh' und je eine Minderheit - das gilt auch für Winterhude."

Wilhelmsburgensien gibt es aber schon in dem einzigen Buchhandel der Elbinseln. Viele Lehrbücher "Deutsch für Anfänger" gingen über den Ladentisch. Etwa fünf Prozent seines Umsatzes mache die Buchhandlung damit. "Die Bereitschaft, Deutsch zu lernen, ist vorhanden", sagt Detlef Lüdemann.

Mit initiierten Bestsellern, also Büchertürmen, die Großverlage in die Bahnhofsbuchhandlungen drücken und somit automatisch die Bestsellerlisten erreichen, kurbelt der Wilhelmsburger Buchhändler nicht das Geschäft an. "Bei uns laufen die Bücher, die wir selbst gelesen haben und empfehlen", sagt Detlef Lüdemann. "Die Kunden vertrauen auf unser Urteil." So stehen auf der Wilhelmsburger Bestsellerliste Sadie Jones' "Der ungeladene Gast", Ken Folletts "Winter der Welt" oder das hitzige New-York-Drama "Clockers" von Richard Price. Kindern empfehlen Lüdemann und seine Mitarbeiterinnen das Weihnachtswichtelwunder "Elfrid & Mila" von Pernilla Oljelund. Gute Verkaufszahlen haben bei Lüdemann auch Bücher über Wilhelmsburg, etwa Kerstin Schäfers "Die Wilde 13". Der Elbinsel-Patriotismus äußert sich auch im Bücherschrank.

Kann es sich Detlef Lüdemann leisten, ein Buch wie Bettina Wulffs "Jenseits des Protokolls" nicht zu promoten und auf eigene Empfehlungen zu setzen? "Ja", sagt er gelassen, "wir handeln ja nicht mit verderblicher Ware."