An diesem Wochenende ist Totensonntag. Ein Besuch auf Harburgs größter Ruhestätte – ein außergewöhnlicher Waldfriedhof.

Harburg. Es scheint ein menschenleerer Ort zu sein. Doch zahlreiche, noch undefinierbare Geräusche lassen darauf schließen, dass der Neue Friedhof Harburg an diesem Vormittag belebter ist, als auf den ersten Blick wahrzunehmen. Abseits der Hauptwege wird geschaufelt und geharkt, Grabsteine werden mit der Drahtbürste moosfrei gekratzt und geschmirgelt. Mitarbeiter der Friedhofsgärtnerei bereiten die Gedenkstätte für Bombenopfer mit Tannenzweigen auf den Winter vor. Der Totensonntag steht bevor.

"Der Gottesacker muss umgegraben werden", sagt Uwe Eggers und stützt sich auf seine Schaufel. Der 72-Jährige hat gerade die Erde auf dem Grab seiner Eltern neu verteilt, damit die Fläche für das Belegen mit einem Gesteck und Zweigen vorbereitet ist. Viermal im Jahr kommt der gebürtige Harburger gemeinsam mit seiner Frau Renate aus Neumünster hierher, um die Grabstätte zu pflegen. "Eine Stunde Fahrt hin, eine weitere zurück. In einem Jahr ist Schluss", sagt Eggers. "Dann ist das Grab nach 40 Jahren abgelaufen, und wir werden es nicht verlängern. Allmählich wird das auch für uns zu anstrengend - und sonst kümmert sich ja niemand darum." Die Eheleute denken gerade darüber nach, ob sie selbst nicht verfügen sollten, sich anonym bestatten zu lassen, damit später niemand eine Last mit der Grabpflege hat. So ganz sicher ist er sich der Sache aber wohl noch nicht, denn Eggers weiß aus Erfahrung, was ein Grab als Bezugspunkt bedeutet: "Wenn man hier steht und sich an die Verstorbenen erinnert, dann fällt einem vieles wieder ein", sagt er. Außerdem mag er diesen Ort: "Von den Friedhöfen, die ich kenne, finde ich diesen am schönsten."

Der Neue Friedhof ist tatsächlich außergewöhnlich. Ein Waldfriedhof, der in die hügelige Landschaft zwischen Marmstorf und Eißendorf gebettet ist. 1892 wurde er von 16 Kirchengemeinden gegründet. Mit 32 Hektar ist er der größte zusammenhängende kirchliche Friedhof in Norddeutschland. 32 550 Grabstellen gibt es hier. "Doch das hier ist auch ein Ort für die Lebenden. Es kommen viele Besucher, die einfach nur spazieren gehen und das Gelände wie einen Stadtpark benutzen", sagt Hans-Dieter Peters. Das glaubt man ihm gern, wenn an einem feuchten, milden Herbsttag Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen für ein diffuses, fast mystisches Licht sorgen.

Hans-Dieter Peters ist Gärtnermeister und als Fachbereichsleiter des Friedhof- und Gartenamts des Kirchenkreises Harburg einer der Chefs auf diesem Gelände. Er erzählt uns beim Rundgang, wie sich die Begräbniskultur in den letzten Jahren verändert hat und wie in Harburg darauf reagiert wurde. Zum Beispiel mit einem Eichenhain, einem modernen Friedwald, in dem Holzkreuze die Lage von Urnen- und Erdgräbern in einer möglichst natürlichen Umgebung markieren. Oder im lichten Rosenhain, wo die Toten seit 2004 auf kleinen Urnengräberfeldern beerdigt werden. Zahlreiche Namen finden sich auf drei hohen Steinstelen daneben. "Das wird sehr gut angenommen. Allein im Rosenhain haben wir ungefähr 100 Bestattungen im Jahr. Wichtig ist, dass die Angehörigen ihre Trauer ausleben können und einen Anlaufpunkt haben. Keiner soll bei uns vollkommen anonym bestattet werden. Das gibt es hier nicht", sagt Peters.

Die meist älteren Menschen, die an diesem Vormittag unterwegs sind, sehen das ähnlich. Eine Frau, die ein- bis zweimal im Monat das Grab ihres vor sieben Jahren verstorbenen Ehemannes besucht, empfindet das als hilfreich für ihr Leben: "Ich sehe seine letzte Ruhestätte als einen Ort, den ich brauche, wenn ich selbst mich nicht in Ordnung fühle. Hier kann ich Zwiesprache halten, das ist eine Art Meditation mit sich und den Toten. Aber, ehrlich gesagt, gehe ich lieber an anderen Tagen hierher, wenn weniger los ist. Ich schätze auf dem Friedhof die Stille."

Annemarie Czarnetzki steht am Grab ihres Mannes und schaut dabei zu, wie ihre Tochter Sabine Biel ein Windlicht vorbereitet. Czarnetzki zeigt auf das Danziger Wappen auf dem Grabstein und erzählt, dass ihr Mann und sie aus der alten Hansestadt an der Ostsee stammen. "Wir waren 56 Jahre miteinander verheiratet. 2008 ist er gestorben", sagt sie. Es ist offensichtlich, dass ihr der Abschied noch immer schwer fällt. Die Besuche auf dem Friedhof helfen: "Ich fühle mich hier mit ihm verbunden." Ihre Tochter empfindet das anders: "Für mich ist Papa eher zu Hause als hier. Ich hätte mir auch gut vorstellen können, dass seine Asche an seinem Lieblingsort verstreut worden wäre, wenn er sich das gewünscht hätte." Annemarie Czarnetzki widerspricht: "Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Wenn die Asche auf dem Meer verstreut wird, bleibt am Ende nichts. Dann ist doch quasi alles vorbei."

An diesem Sonntag findet in der Kapelle am Haupteingang in der Bremer Straße 236 eine Andacht für alle im vergangenen Jahr Verstorbenen statt. Beginn ist um 15 Uhr. Bereits um 14.30 Uhr spielt in der Kapelle ein Posaunenchor. Der Eintritt ist frei.