Ein ehemaliges Stück DDR soll besser an den Landkreis Lüneburg angebunden werden. Verhärtete Fronten - Bürger sollen abstimmen.

Amt Neuhaus/Neu Darchau. Der alte Diesel heult auf. Fährt die "Tanja" schon? Ja, sie fährt, das Ufer entfernt sich Meter um Meter, und schon ist sie draußen auf dem Strom, der an dieser Stelle an die 250 Meter breit ist. Darchau liegt achtern, Neu Darchau voraus. Alltag für Ulrike Meyer, Ergotherapeutin aus Popelau im Amt Neuhaus. Die Fährpassage ist Teil ihres Arbeitsweges, so wie es für andere eine Autobahn oder eine Bundesstraße ist. "Wenn es hier doch nur eine Brücke gäbe", sagt die 26-Jährige, seufzt und dreht das Radio in ihrem silberfarbenen Ford lauter. Drei Minuten dauert die Passage.

Am anderen Ufer steht Andreas Conradt. Geht es nach dem Journalisten, ist so eine morgendliche Bootsfahrt das reinste "Fährgnügen". Dieses lustige Wortspiel ziert jedenfalls das T-Shirt, das er sich übergezogen hat. Conradt verteilt an diesem Morgen Freifahrscheine, denn er hat eine Mission: Die Bürgerinitiative, deren Kopf er ist, will jeden davon überzeugen, wie toll das Fahren mit der Fähre ist. Und wie unnötig eine Brücke.

Der Wahlkampf hat begonnen, am 20. Januar kommenden Jahres wird abgestimmt. Es ist der Termin der niedersächsischen Landtagswahl, doch hier an der Elbe - an einem ihrer Ufer jedenfalls - wird es an jenem Tag noch um eine andere Frage gehen: Brücke bauen - ja oder nein? Das sucht der Landkreis Lüneburg in der ersten sogenannten Bürgerbefragung in seiner Geschichte herauszufinden. "Es geht auch darum, die deutsche Einheit ein Stück weit zu vollenden", sagt Alexander Blume, Fraktionsvorsitzender der CDU im Lüneburger Kreistag.

Das Amt Neuhaus, ein Zusammenschluss aus acht ehemals selbstständigen Gemeinden nördlich der Elbe, ist ein echtes Stück Ex-DDR auf niedersächsischem Terrain. Erst am 30. Juni 1993, knapp drei Jahre nach der Wiedervereinigung, ging das 237 Quadratkilometer große Gebiet auf Grundlage eines zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen geschlossenen Staatsvertrags wieder an den Landkreis Lüneburg.

Zu dem hatte es bereits bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gehört, war dann aber von der britischen Besatzungsmacht freiwillig an die sowjetische Besatzungszone abgegeben worden. Zu umständlich erschien den Briten die Verwaltung dieses Gebietes - vor allem, weil es mangels Elbbrücke quasi nicht zu erreichen war.

An dem Zustand, den die Briten offenbar als Mangel erkannten und der den Neuhäusern die DDR-Diktatur bescherte, hat sich bis heute nichts geändert. De facto ist das Amt Neuhaus mit seinen knapp 5000 Einwohnern abgeschnitten vom restlichen Landkreis und dessen Kreisstadt auf der anderen Seite des Stroms. Die nächsten Brücken sind bei Dömitz (31 Kilometer in südöstliche Richtung) und Lauenburg (39 Kilometer nordwestlich). Wer die Luftlinie bevorzugt, muss mit der "Tanja" fahren. Oder mit der kleineren "Amt Neuhaus" ein paar Kilometer stromab, die allerdings keine Lastwagen und keine Traktoren befördern kann.

Seit 20 Jahren wird der Brückenschlag nun vorbereitet; ebenso lange steht er in der Kritik. Umweltschützer befürchten, das Biosphärenreservat Niedersächsische Elbtalaue könne Schaden nehmen, Anwohner befürchten mehr Verkehr: Prognosen zufolge würden zwischen 3200 und 3400 Fahrzeuge pro Tag eine Brücke nutzen. Mit der "Tanja" setzen rund 700 Wagen täglich über die Elbe über. Ein über die Jahre vom Landkreis Lüneburg ausgearbeiteter Planfeststellungsbeschluss ist vor fünf Jahren in letzter Gerichtsinstanz für rechtswidrig befunden worden - aufgrund eines Formfehlers.

Seitdem plant der Landkreis aufs Neue, wenn auch sehr verhalten. Vor allem an den Kosten eines Brückenbaus scheiden sich die Geister. Nach einer ersten groben Schätzung dürften sie bei rund 45 Millionen Euro liegen. Eine genauere Berechnung liegt allerdings nicht vor, weil aus Kostengründen vor der Bürgerbefragung kein Ingenieurbüro beauftragt werden soll. Das Land Niedersachsen hat zugesagt, aus Bundesmitteln 75 Prozent der Planungs- und Baukosten beizusteuern, weitere 1,3 Millionen will das Land selbst geben, und vom Landkreis Lüchow-Dannenberg sind 700 000 Euro zu erwarten. Der Eigenanteil des Landkreises Lüneburg läge demnach bei 9,25 Millionen Euro.

Die SPD, die gemeinsam mit den Grünen über eine Kreistagsmehrheit verfügt, unterstützt das Projekt. Die Grünen lehnen es ab. Und Landrat Manfred Nahrstedt (SPD) sagt: Ja, aber nicht um jeden Preis. Sein politischer Wille ist es, dass der Landkreis auf keinen Fall mehr als zehn Millionen Euro beisteuert.

"Das ist viel Geld für so wenige Menschen", meint Andreas Conradt, der sich darum sorgt, dass sich der Landkreis Lüneburg andere Investitionen dann nicht mehr leisten könnte. Kurioserweise ist er selbst Bürger des Landkreises Lüchow-Dannenberg. Auf dessen Gebiet liegt auch der Anleger Neu Darchau. "Aber wenn andere Argumente nicht greifen, muss man eben mit dem Geld kommen", begründet Conradt, dass er sich um die Finanzen des Nachbarkreises Sorgen mache. Also betreibt er auch "Wahlkampf" vor der Abstimmung im Nachbarkreis.

Zehn Millionen Eigenanteil - dieser Betrag wäre laut einem Merkblatt der Kreisverwaltung zur Bürgerbefragung bei einer Bausumme von 48 Millionen Euro erreicht, "wobei das Risiko einer weiteren Kostenerhöhung allein beim Landkreis liegen und zu einem höheren Eigenanteil führen würde", wie es weiter heißt.

Dieser Darstellung widerspricht CDU-Fraktionschef Blume: "Es gibt das eindeutige Versprechen aus der Landesregierung, dass es bei höheren Kosten auch höhere Zuschüsse gäbe." Seine Fraktion hat gerade - erfolglos - versucht, die Bürgerbefragung abzublasen.

Andreas Conradt sieht der Befragung gelassen entgegen. "Selbst wenn die Lüneburger die Brücke wollen, heißt das ja nicht, dass sie morgen gleich steht." Ganz im Gegenteil: Dann gehe das ganze Genehmigungsverfahren erst los, Klagen eingeschlossen. Hans-Rainer Beu lässt sich von ihm einen Freifahrschein geben. Zustimmen mag der 63-Jährige trotzdem nicht. "Wenn die Brücke nicht kommt, hauen alle jungen Leute ab aus dem Amt Neuhaus", sagt der pensionierte Straßenbauer. Dann heult der alte Diesel auf. Die "Tanja" legt ab.