Nach dem sechsspurigen Ausbau beklagen Anwohner eine höhere Geräuschbelastung als früher - trotz der neuen Schallschutzwände.

Hollenstedt. Freie Fahrt in Richtung Bremen: Heute Vormittag wird die auf einer Länge von 72 Kilometern sechsspurig ausgebaute Autobahn 1 offiziell freigegeben. Bei der Feier am Rande der Gemeinde Sittensen dürften viele lobende Worte zu hören sein - nicht zuletzt deshalb, weil das private Konsortium A 1 mobil das 420-Millionen-Euro-Projekt in 49-monatiger Bauzeit und damit ein Vierteljahr schneller als ursprünglich geplant realisiert hat (das Abendblatt berichtete). Doch die Freude über die neue Piste ist nicht ungeteilt. Seit vor wenigen Wochen schon mal das Tempolimit auf dem Hamburg nächsten Abschnitt aufgehoben worden ist, klagen Anwohner über Lärm, der ungleich höher sei als in früheren Zeiten. Und das, obwohl entlang der Schnellstraße nun nagelneue Lärmschutzwände stehen.

"Vor ein paar Tagen", sagt Ronald Felten, 77, "habe ich morgens die Terrassentür aufgemacht. Und sofort wieder zugeknallt. Das Rauschen und Pfeifen draußen war nicht zum Aushalten." Der Bauunternehmer im Ruhestand lebt am Rande von Hollenstedt etwa 500 Meter nördlich der gleichnamigen Autobahnraststätte. Die Einfamilienhäuser stehen auf eingewachsenen Grundstücken, Blumen blühen, Vögel zwitschern. Idylle pur. "Aber wenn der Wind ungünstig steht, müssen wir vor der Haustür schreien, wenn wir wollen, dass uns jemand versteht", sagt Feltens Frau Ursula, 72. "Früher, sagt sie, "da gab es Tage, an denen wir die Autobahn gar nicht gehört haben. Die Feltens leben seit mehr als 40 Jahren neben und mit der A 1.

Und sie sind nicht die einzigen Anrainer, die sich seit Kurzem belästigt fühlen. Aus ganz Hollenstedt trudeln Beschwerden ein, aber auch aus dem zur Samtgemeinde Sittensen gehörenden Ort Lengenbostel. "Wir sind nicht zufrieden mit der Ausbildung des Lärmschutzes", sagt Bürgermeister Dieter Jungemann (CDU). Dem Ort bleibe wohl nichts anderes übrig, als - wahrscheinlich auf eigene Kosten - ein Gutachten anzustreben. Zurzeit wartet er noch auf eine Antwort der niedersächsischen Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr, Außenstelle Verden. Sie vertritt den Bund als Auftraggeber.

Genau an diese Adresse hat Hollenstedts Samtgemeindebürgermeister Uwe Rennwald gestern einen Brief abgeschickt. "Ich sehe mich nun als eine Art Infoschnittstelle" sagt er. "Die große Frage, die wir uns gestellt haben, lautet: Kann man jetzt überhaupt noch etwas verändern?" Und: Erfüllen die Lärmschutzwände ihren Zweck? Welche Auswirkungen haben die neuartigen Fahrbahnmarkierungen, die vernehmbar unter den Autoreifen summen? Ist ein Tempolimit möglich? "Viele, viele Fragen also", sagt der Samtgemeidebürgermeister. "Die Antworten fehlen noch."

Heiko Gerken, Leiter der Verdener Außenstelle der Straßenbau- und Verkehrsbehörde, sagt, er könne den Unmut der Anwohner gut nachvollziehen. Aber: "Beim Schall sind viele subjektive Einflüsse ausschlaggebend." Zum Beispiel könnten die A-1-Anrainer verwöhnt davon sein, dass in der Bauphase über Jahre hinweg die Geschwindigkeit auf 80 Kilometer pro Stunde reduziert gewesen und es oft zu Staus gekommen sei. "Tatsächlich ist alles so, wie es sein soll", sagt Gerken. Die entlang der Autobahn verwendeten Schallschutzwände reduzierten den Geräuschpegel um acht bis elf Dezibel. "Die sind auch zertifiziert", so Gerken.

Wie alles sein soll, steht im Planfeststellungsbeschluss, der mit 18. August 2005 datiert ist. Bestandteil dieses Papiers sind auch umfangreiche Berechnungen zum Schallschutz. In Wohngebieten darf der sogenannte Dauerschallpegel 59 Dezibel am Tage und 49 Dezibel nachts nicht überschreiten. In Mischgebieten liegen die Grenzwerte bei 64 beziehungsweise 54 Dezibel. Wo sie nicht eingehalten werden konnten, seien die Anwohner mit passiven Lärmschutz entschädigt worden. Dazu zählen zum Beispiel spezielle Lüftungssysteme für Häuser - damit die Betroffenen nachts die Fenster nicht zu öffnen brauchen.

Nun treffen die Berechnungen auf die Realität. Die Forderung vieler Anwohner, die berechneten Werte nachzumessen, weist Heiko Gerken grundsätzlich zurück: Lärm werde nie gemessen, weil dabei zu viele Faktoren das Ergebnis verfälschen könnten. Berechnungen seien viel genauer. "Aber wir werden die rechnerischen Ansätze noch mal überprüfen", sagt der Behördenleiter. Das heißt: Im kommenden Frühjahr sollen die Autos auf der A 1 gezählt werden. Bei der letzten Zählung vor zwei Jahren waren es Gerkens Worten zufolge 66 500 Fahrzeuge innerhalb von 24 Stunden. Der Lärmschutz ist anhand einer Prognose für das Jahr 2015 berechnet worden. Sie geht von 82 000 Fahrzeugen aus.