Im Sensorikseminar am Kiekeberg lehrt der Leiter der Brennerei des Freilichtmuseums, wie man Hochprozentiges richtig genießt.

Ehestorf. Wenn Männer und Frauen in Deutschland einen Korn trinken, ist die Zeremonie überall ähnlich: Sie setzen das kleine Schnapsglas an die Lippen, kippen den Kopf ruckartig nach hinten und schleudern die hochprozentige Flüssigkeit über die Zunge hinweg direkt in den Rachen. Ein Kurzer eben. Das schmerzverzerrte Gesicht, als hätten sie pure Zitronensäure getrunken, gehört dazu. Fast immer wird der Schnaps eiskalt serviert.

"Alles falsch", sagt Stefan Seufert. Zumindest, wenn man den Rachenputzer nicht irgendwie herunterspülen, sondern das Aroma tatsächlich schmecken möchte. "An der Zungenwurzel in Richtung Rachen ist der Geschmackseindruck bitter besonders ausgeprägt", erklärt der Leiter der Museumsbrennerei des Freilichtmuseums am Kiekeberg. Wer den Korn nach hinten durchkippt, schmeckt den Korn viel bitterer, als er in Wirklichkeit ist. Und wer tatsächlich schmecken möchte, was er trinkt, genießt die Spirituose wohltemperiert bei Raumtemperatur.

Der Chef der Museumsbrennerei lehrt, wie man einen Brand mit allen Sinnen genussvoll trinkt. Zu seiner Gaumenschulung haben sich am Sonnabend sieben Frauen und drei Männer im Klassenzimmer des Erlebniszentrums Agrarium am Freilichtmuseum eingefunden. Und weil es sich um ein Museum handelt, eine Stätte der Wissenschaft, heißt die Schnapsprobe hier Sensorikseminar und ist ein Programmbaustein des Regionalprojektes "Essen - aber was?". Die Europäische Union und das Land Niedersachsen fördern das Genusstrinken mit Grips.

"Am Ende geht es an die harten Sachen", spannt Stefan Seufert zur Begrüßung den Spannungsbogen ins Unermessliche. Aber erst müssten die Kursteilnehmer beweisen, dass sie schmecken können. Auch mit Worten gilt es dabei fein zu unterscheiden: Bitter ist ein Geschmack, Schärfe dagegen ist eine Grundempfindung und ein Schmerzeindruck.

Wie bei den professionellen Lebensmitteltestern der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft lässt Seufert seine Probanden die Grundgeschmacksraten süß, sauer, salzig und bitter aus vorbereiteten Wasserproben herausschmecken. Wer glaubt, Süßes, Saures, Bitteres und Salziges unterscheiden zu können, sei ein Kinderspiel, irrt gewaltig und hat gleichzeitig recht: Kinder schmecken die Grundgeschmacksarten besser heraus als Erwachsene. Diese Fähigkeit geht mit dem Alter verloren - es sei denn, man trainiert sie. Deshalb mögen Kinder selten Bitterschokolade, erklärt Stefan Seufert. Und: Frauen haben einen besseren Geschmack als Männer. Das hätten sie schon immer gewusst, werden die Frauen jetzt sagen. Gemeint ist aber: Frauen machen in der Regel weniger Fehler beim Schmecken von Süßem oder Salzigem.

Dennoch gelingt es Seufert spielend leicht, auch den Geschmackssinn der sieben Frauen im Klassenzimmer in die Irre zu führen. Alle Seminarteilnehmer, so die Aufgabe, sollen drei Apfelsaftproben nach dem Grad ihrer Süße sortieren. Der Zucker im Saft klebt den Gaumen zu. "Das ist ja alles süß", zeigt sich eine Frau ziemlich ratlos. Dennoch hält auch sie wie alle anderen am Ende einen Saft für am stärksten und einen anderen für am schwächsten süß.

Tatsächlich hat Stefan Seufert alle ausgetrickst. "Überall ist der gleiche Saft drin", verrät er den erstaunten Probanden. Ein Direktsaft aus dem Supermarkt. Die Aufgabe, unbedingt eine Reihenfolge erstellen zu sollen, erklärt er, habe dazu geführt, dass die zehn Frauen und Männer ihrem eigenen Gaumen nicht getraut haben. Auf dem Weg vom Glas zum Gaumen passiert mehr als wir ahnen. "Manchmal gaukelt unser Gehirn uns etwas vor", sagt Stefan Seufert. Viele Sinne sind daran beteiligt, wenn wir Schnaps oder Wein schmecken. Geschmack kann man sogar hören. Allein aus dem Geräusch, wenn der Korken aus der Flasche ploppt, gewinnt ein geschulter Tester Informationen über die Qualität.

Die dunkle Farbe erweckt den Eindruck bei uns, dass eine Spirituose aromatischer, kräftiger schmecke, "Deshalb färbt die Industrie mit Zuckercouleur nach", sagt Seufert. Er berichtet von der Wunderbeere aus West-Afrika, die sogar saure Zitronen süß schmecken lässt. Ein Glycoprotein der Beere verändert den Geschmack, wenn es sich mit den Zungenpapillen bindet. Die Nahrungsmittelindustrie forsche daran, mit der Wunderbeere den Zuckergehalt in den Lebensmitteln senken zu können.

Nach einer Verkostung feinen Backwerks, Kekse aus Hafer, Roggen, Buchweizen und Weizen, sagt Stefan Seufert den Satz, auf den alle gewartet haben: "So, jetzt sind Sie bereit für die harten Sachen!" Er serviert einen Roggenbrand, natürlich in Raumtemperatur. Vor dem Schlucken rät er noch, das Glas bloß nicht herumzuschwenken wie eine Salatschleuder. Was angebliche Kenner bei einer Verkostung gerne machen, sei ein Fehler. "Das Herumwirbeln ist Küchenzauber", sagt Seufert. Da wahre Aroma werde dadurch verfälscht. "Bei einem Brand wird auf diese Weise der Geruchseindruck unharmonisch.

Wer genussvoll trinkt, schleudert den Hochprozentigen nicht einfach in den Rachen. Den Brand in den Mund nehmen, bis zehn zählen und dann erst schlucken, rät Seufert.

Nach drei Stunden Seminardauer dürfen die zehn Männer und Frauen noch den neuen Brand aus der Museumsbrennerei kosten. Der Dinkelbrand kommt erst in einer Woche in den Verkauf. "Er schmeckt viel milder als der Roggenbrand", sagt Ulla Kähler. Ihre Erkenntnis aus dem Seminar: Sie werde versuchen, bewusster und genussvoller zu essen und zu trinken.

Dürfen die zehn Männer und Frauen sich jetzt überhaupt noch ans Steuer setzen und mit dem Auto nach Hause fahren? Ja, versichert Stefan Seufert: "Was ich Ihnen eingeschenkt habe, hat den Alkoholgehalt von zwei reifen Bananen!"