Der Bezirksamtsleiter Andy Grote erkundete mit dem Abendblatt Wilhelmsburg. Sein Lieblingsort ist das Reiherstiegviertel.

Mitte-Bezirksamtsleiter Andy Grote kommt an diesem Nachmittag mit dem Dienstrad auf die Elbinsel: Sein Gefährt ist ein schwarz-silberfarbenes 28-Zoll-Rad von Conway mit Federung, Behördennummer 6. Der 44-Jährige trägt einen dunkelgrauen Anzug, ein blaues Oberhemd und eine braune Krawatte. Wir werden mit ihm durch ein Wilhelmsburg radeln, das wie kein anderer Hamburger Stadtteil im Wandel ist - ein Stadtteil, der viele junge Menschen anzieht und im kommenden Jahr 2,5 Millionen Besucher aus ganz Deutschland auf dem Gelände der Internationalen Gartenschau erwartet.

Unsere erste Station ist ein rund 100 Jahre altes Rotklinkerhaus am Vogelhüttendeich, Ecke Hans-Sander-Straße im Reiherstiegviertel. Ein Hamburger Immobilien-Unternehmen renoviert hier kräftig und wird fast alle Wohnungen an Neumieter vermieten: für neun bis zehn Euro netto kalt pro Quadratmeter. Andy Grote hat einen Großteil seines Politikerlebens der Hamburger Stadtentwicklung gewidmet, wir sprechen über die Gentrifizierung, die Aufwertung des Stadtteils.

"Zehn Euro netto kalt kann man bei Neuvermietungen für sanierten Altbau nehmen, da würde man für die gleiche Wohnung auf St. Pauli oder in der Schanze 15 Euro bekommen", sagt der SPD-Mann. "Es zeigt sich, dass es im Reiherstiegviertel an gewissen Stellen ein Mieterhöhungspotenzial gibt. Aber unterm Strich lagen die Mietsteigerungen 2011 unter dem Niveau von Billstedt. Es gibt im Reiherstiegviertel eine Verdrängungsgefahr, aber es findet noch keine Verdrängung statt."

Wir radeln weiter durchs Viertel. Vorbei an türkischen Lebensmittelläden, türkischen Klubs und den ehemaligen Rialto-Lichtspielen am Vogelhüttendeich. Andy Grote ist bekennender St. Paulianer. Der Single lebt seit zwölf Jahren in einer Mietwohnung an der Talstraße, mitten auf dem Kiez.

"St. Pauli ist quirliger und lebendiger als das Reiherstiegviertel", sagt Andy Grote. "Es pulsiert mehr, ist szeniger und stylischer. Das Reiherstiegviertel wird kein zweites St. Pauli werden. Wir brauchen Zuzug nach Wilhelmsburg ohne Verdrängung - und das bekommen wir hin, weil wir hier ja viele neue Wohnungen bauen werden."

Wir halten vor einem Mietshaus an der Fährstraße 15, ein Backsteinhaus mit vielen Satellitenschüsseln auf den Balkonen. Hier lebte Chantal - das Mädchen, das trotz staatlicher Aufsicht in seiner Pflegefamilie mit elf Jahren an einer Methadon-Vergiftung starb. Der Nachname ihrer Pflegemutter steht noch immer auf dem Türschild.

Andy Grote ist sichtlich berührt, als er sein Fahrrad im Innenhof abstellt. Die damalige Jugendamtsleiterin Pia Wolters wurde nach Chantals Tod suspendiert. Wenig später trat Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) zurück. Wenn Chantal nicht gestorben wäre, dann wäre Andy Grote jetzt nicht Mitte-Chef.

Es sei für ihn "bedrückend", hier zu stehen, sagt der Mitte-Chef. Seine Worte kommen stockend: "Wir müssen aus Chantals Tod lernen, dafür zu sorgen, dass so ein Fall nicht wieder vorkommen kann. Das ist die wichtigste Aufgabe, die ich in meinem Amt übernommen habe. Aber man wird nie alle Risiken ausschließen können." Bei Chantal seien "viele einzelne Fehler passiert. Die Informationen über die Pflegefamilie lagen abstrakt beim Jugendamt vor, aber nicht bei dem jeweils handelnden Mitarbeiter." Zurzeit arbeiten 21 Mitarbeiter für den Allgemeinen Sozialen Dienst in Wilhelmsburg und auf der Veddel.

Wir fahren schnurstracks die Georg-Wilhelm-Straße in Richtung Süden und stoppen an einem Kiosk. Vier Männer sitzen um 15.30 Uhr auf Bänken und trinken Bier. "So einen richtig gentrifizierten Eindruck macht das hier aber noch nicht", sagt Andy Grote. "Es ist nicht so, dass alle Welt jetzt plötzlich nach Wilhelmsburg ziehen will. Wir haben nach wie vor erhebliche soziale Probleme auf der Elbinsel. Für die meisten Menschen, die nördlich der Elbe wohnen, ist es gar keine Option, hierher zu ziehen. Die meisten Zuzügler kommen aus dem Süden der Stadt."

In der "neuen Mitte Wilhelmsburgs" fahren Bagger auf dem Gelände der Internationalen Bauausstellung (IBA) an der Neuenfelder Straße, Bauarbeiter malochen an den Hybrid-Häusern und am Wälderhaus. Hier werden ab April 2013 die Besucher in das Gartenschaugelände strömen. Hier werden für die Menschen eine Kletterhalle, ein Schwimmbad, eine Skateranlage und eine Kanustrecke zur Verfügung stehen. "Dieses Areal wird nach 2013 die meisten Nicht-Wilhelmsburger auf die Elbinsel locken und das Image von Wilhelmsburg noch einmal anders prägen", sagt Andy Grote.

Für die Wilhelmsburger aber werde der Berta-Kröger-Platz auf der anderen Seite der Bahngleise eine größere Bedeutung haben, meint der Mitte-Chef. Wir radeln dorthin. Hier bauen Arbeiter das neue Einkaufszentrum, das Luna-Center mit 50 Läden, Gastronomie und Kindertagesstätte. "Dieses Zentrum wird viele Wilhelmsburger anziehen", sagt Andy Grote. "Die Wilhelmsburger werden das Gefühl haben, das ist ihr Zentrum. Hier finde ich viel, was ich brauche. Das stärkt die Identität."

Viele Orte in Wilhelmsburg können wir an einem Nachmittag nicht ansteuern: Georgswerder, Kirchdorf-Süd, die Kirchdorfer Einfamilienhäuser, das Naturschutzgebiet Heuckenlock. Zum Schluss der Tour auf dem Berta-Kröger-Platz zwei Fragen: Könnte Andy Grote, geboren in Erpen bei Osnabrück, aufgewachsen in Büsum an der Nordsee, auf der Elbinsel leben? "Wenn ich nicht mehr auf St. Pauli leben dürfte, könnte ich mir das vorstellen." Und wo würde er dann auf der Elbinsel wohnen? "Mir persönlich wäre es in der ,neuen Mitte' nicht urban genug. Mir fehlen dort die kleinen Läden, die Kneipen, die Kultur. Ich würde mich im Reiherstiegviertel wohler fühlen."