Peter Novotny von der Stiftung Hof Schlüter reist regelmäßig in die Ukraine, um dort Hilfe zu leisten, wo die Not am größten ist.

Bila Zerkwa. Es ist 8 Uhr morgens. Die Sonne scheint am polnisch/ukrainischen Grenzübergang Doruhusk. Noch ist es empfindlich kühl. Aber die Sonne lässt erahnen, welche Hitze der Tag noch bringen wird. Peter Novotny, sein Sohn André und dessen Frau Petra von der Scharnebecker Stiftung Hof Schlüter sind im Auto unterwegs nach Bila Zerkwa. Die nach ihrer weißen Kirche benannte 230 000-Einwohner-Stadt liegt etwa 80 Kilometer nordwestlich von Kiew. Hier leistet die Stiftung seit zehn Jahren humanitäre Hilfe. Zwischen kilometerlangen Lkw-Schlangen rollen die Autos an den Schlagbaum heran. Nach zwei Stunden Wartezeit ist der schwarze Opel mit Lüneburger Kennzeichen an der Reihe. Der Zöllner versucht sich in englischer Sprache. Ihm gelingt eine unverständliche Mischung aus Englisch und Ukrainisch. Er versucht sogar manchmal zu lächeln, während er die Papiere der Novotnys kontrolliert. Die Fußball-Europameisterschaft im Juni hat ihre Spuren hinterlassen, sogar bei den Zöllnern der Ukraine. Der Mann hat zur EM einen Sprachkursus gemacht, vielleicht auch ein Benimm-Training.

Rund zehn Millionen Euro hat der ukrainische Staat in die Infrastruktur für die Fußballfans aus Europa investiert. Die Autobahn von der polnischen Grenze bis zur Hauptstadt Kiew hat sich fast über Nacht von einer Schlaglochpiste in eine richtige Schnellstraße verwandelt. Auf dem Seitenstreifen fahren immer noch die Bauern mit ihren Panje-Wagen. Das sind kleine Pferdewagen aus Holz. Kurz vor Kiew verlassen die Novotnys die Autobahn. An dieser gottverlassenen Gegend ist der EM-Trubel Wochen spurlos vorübergegangen. In den tiefsten Schlaglöchern stecken abgebrochene Baumäste zur Warnung. Die Ukrainer nehmen es mit Humor. Sie sagen, ihre Autos hätten bereits ab Werk Massagesitze. Wohl dem, der eine stabile Wirbelsäule hat.

In Bila Zerkwa ist die Zeit stehen geblieben. Bis hierher sind die Neuerungen nicht durchgedrungen. Kaum jemand hat in dieser Stadt Arbeit. Auf dem Papier steht jedem Arbeitslosengeld zu. In der Praxis existiert das soziale Netz in der Ukraine faktisch nicht mehr. Die Menschen leiden unter bitterster Armut. "Wir sind hier noch die Einzigen, die humanitäre Hilfe leisten. Dabei braucht diese Stadt, die ganze Region dringend Hilfe aus dem Westen", sagt Stiftungsvorstand Peter Novotny. Seit zehn Jahren reist er regelmäßig nach Bila Zerkwa, spricht mit den Menschen, hört sich ihre Sorgen und Bitten an. "Wenn ich mir vorstelle, dass all das Geld, das die Regierung in neue Hotels in der Hauptstadt und in die Straßen nach Kiew investiert hat, und die Krankenhäuser die letzte staatliche Zuweisung an Instrumenten und Geräten vor 30 oder 40 Jahren bekommen haben, packt mich die kalte Wut."

Kurze Pause in einer Poliklinik, die ein Gebiet von etwa 37 000 Menschen versorgt. Das Budget, das ein Krankenhaus vom Staat bekomme, reiche gerade für die Löhne der Ärzte und Krankenschwestern, erzählt Bogdan Ivaniv, Chirurg und Direktor der Klinik. 145 Betten habe sein Krankenhaus. Laut Gesetz steht jedem Ukrainer eine kostenlose Behandlung im Krankenhaus zu. "Das ist lächerlich, denn in der Realität können wir das überhaupt nicht leisten. Unsere Patienten müssen alle Medikamente, auch die Narkosemittel, selbst bezahlen. Für Menschen, die das nicht können, haben wir zwar Medikamente. Das sind aber billige Importe aus beispielsweise Indien, die meist überhaupt keine Wirkung zeigen", so Bogdan. Wer hier ins Krankenhaus muss, bringt auch gleich Bettwäsche mit und lässt sich von seiner Familie das Essen bringen. Für mehr als eine wässrige Suppe, sagt Bogdan, reiche das Budget eben nicht. Er bittet den deutschen Besuch um Bettwäsche und medizinische Geräte.

Am nächsten Tag im Büro des Bürgermeisters von Bila Zerkwa, Wassyl Savschuk, sitzen außer den Novotnys auch Lena und Natascha vom Diabetiker Verein in Bila Zerkwa. Diabetiker, die das 18. Lebensjahr erreichen, werden in der Ukraine Invaliden genannt. Viele sind es nicht, die mit der Krankheit Diabetes Mellitus das 18. Lebensjahr überhaupt erreichen. 112 Erwachsene und 47 Kinder leiden in der Stadt am Fluss Ros unter dieser Krankheit. Natascha erzählt: "Seit einem halben Jahr bekommen wir kein Insulin mehr vom Gesundheitsministerium. Wir wissen nicht, warum. Die Menschen könnten sich das gute Insulin zwar in der Apotheke kaufen, aber sie haben nicht das Geld. Und die Stadt hat auch kein Geld, um das dringend gebrauchte Medikament zu kaufen. Unsere Kinder warten seit fünf Monaten auf Insulin. Das billige Insulin aus Indien, das sich die Leute aus Verzweiflung besorgen, ist völlig wirkungslos. Unsere Leute sterben an dieser Krankheit." Wassyl, Lena und Natascha hoffen auf die Hilfe aus Deutschland. Aber die Stiftung darf kein Insulin einführen. Mit solchen Verboten betreibt die ukrainische Regierung Lobbyarbeit für die eigenen Medikamentenhersteller. Nutznießer sind, wie so oft in der Ukraine, die Oligarchen, Wirtschaftsmagnaten, die in die eigenen Taschen wirtschaften. Das Volk bleibt auf der Strecke. Bürgermeister Savtschuk, er ist noch einer der wenigen Bürgermeister im Land, die mit der orangenen Revolution im Jahr 2004 ins Amt gewählt wurden und geblieben sind, verspricht, beim Gesundheitsministerium in Kiew wegen der Einfuhr von Insulin vorzusprechen.

Bila Zerkwa, in Sowjetzeiten boomte hier die Rüstungsindustrie, heute boomt hier nur noch die Armut. Wer Glück hat, findet noch Arbeit in der Reifenfabrik, die ihre Abwässer ungefiltert in den Ros leitet, in dem im Sommer die Menschen baden. 1986 regnete über der Stadt die größte atomare Wolke aus Tschernobyl nieder. Viele Kinder, die hier zur Welt kommen, haben Leukämie. Zahlen gibt es nicht, niemand macht sich die Mühe, die Leukämierate auszurechnen. Die Stadt ist geprägt von heruntergekommenen sowjetischen Plattenbauten, in den sandigen Seitenstraßen stehen die Datschen, kleine Häuschen aus Stein oder Holz. In den Gärten wird Gemüse angepflanzt. Selbst die Grundnahrungsmittel können bei einem Durchschnittseinkommen von 50 bis 80 Euro im Monat zum unerschwinglichen Luxus werden. Ehemalige sowjetische Prachtstraßen für die Militärparaden durchziehen die Stadt. Neben Bürgermeister Savschuks Rathaus steht noch eine Lenin-Statue. Viele Menschen laufen in Plastik-Badelatschen durch die Stadt. Schuhe sind für ukrainische Verhältnisse sehr teuer. Für einen Wintermantel muss ein Ukrainer gleich zwei bis drei Monatsgehälter hinblättern. Natalie Geedz kommt aus Bila Zerkwa, und trotz aller Widrigkeiten, trotz aller Armut und Ungerechtigkeit liebt sie ihr Land. Sie hat damals vor acht Jahren mitgemacht bei der orangenen Revolution. Ihre Hoffnungen auf mehr Demokratie in ihrem Land sind zerstört.

Natalie begleitet die Novotnys als Dolmetscherin auch zu einer Plattenbausiedlung am Rande der Stadt. Hier wohnen die Ärmsten der Armen. Die Platten bröckeln von den Fassaden. Vor dem Hochhaus fegt eine alte Frau mit einem Reisigbesen den sandigen Platz. Valentina erwartet den Besuch aus Deutschland vor dem Haus. Sie will den Novotnys zeigen, wie ihre Tochter und ihre Enkelin Julia leben. Julias Mutter verkauft auf dem Markt Gemüse. Die neun Jahre alte Julia teilt sich mit ihrer Mutter ein nicht mal zehn Quadratmeter großes Zimmer. Es ist aufgeräumt, an der Fensterwand steht eine Schlafcouch. Auf dem Flur teilen sich sechs Familien Toiletten und Küche. Ein Badezimmer gibt es nicht. So lebten in Sowjetzeiten viele Menschen, denen der Staat keine Wohnung zuweisen konnte. Julia ist schüchtern, sie hält sich eng an ihre Oma gedrängt. "Ja" sagt das Mädchen, "ich freue mich auf Deutschland. Aber ich habe auch ein bisschen Angst". Jedes Jahr lädt die Stiftung Hof Schlüter etwa 30 Kinder aus Bila Zerkwa nach Neetze in die Jugendbildungsstätte bei Lüneburg in die Ferien ein.

Eine halbe Autostunde von Bila Zerkwa entfernt liegt die Kreisstadt Taraschtscha. Nikolai ist Chefarzt des 190-Betten-Kreiskrankenhauses. Der Mann sieht müde aus, die Rolle des Bittstellers behagt ihm nicht. "Wir haben schon seit 15 Jahren kein Geld mehr vom Staat für Geräte bekommen. Unser Budget reicht nur für die Gehälter und die erste Hilfe. Den Rest müssen die Patienten bezahlen. Und nicht alle können sich das leisten. Wir brauchen dringend Bettwäsche, Blutdruckgeräte und einen Röntgenapparat. Ohne eure Hilfe geht es hier nicht weiter", erzählt der Arzt dem Besuch aus Scharnebeck.

Dann zeigt er den Operationssaal im Keller seines Kreiskrankenhauses. Den Keller erreicht der Besuch über das Treppenhaus, denn einen Fahrstuhl gibt es hier nicht. Im Operationssaal steht ein OP-Tisch aus den 30er-Jahren. Nikolai lächelt etwas verlegen. Auf dem Hof des Krankenhauses steht ein klappriger Krankenwagen mit einer Holzpritsche. Nikolajs Erste-Hilfe-Koffer ist ein verrosteter Blechkasten mit ein paar Medikamenten-Ampullen darin. Schwere Notfälle würden gleich nach Kiew gebracht. Auf die Frage, ob sein Beruf angesichts dieser Verhältnisse noch Spaß mache, lächelt Nikolai: "Arzt bleibt Arzt, und Kranke gibt es immer."