Um am Markt zu überleben, hat sich die Lebenshilfe-Einrichtung zertifizieren lassen. Derzeit sind vor Ort 24 Menschen mit Behinderung tätig.

Winsen. Welchen Wert hat Arbeit? Und welchen Wert hat der Mensch? Die Werkstätten der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg stellen sich diese Fragen quasi täglich. Sie stecken in der permanenten Zwickmühle, einerseits ihren ursprünglichen Auftrag zu erfüllen und den Menschen mit Behinderung zu helfen und andererseits den Wünschen ihrer Firmenkunden gerecht zu werden.

Als bundesweit einzige Werkstatt erfüllt jetzt die Lebensmittelabteilung der Lebenshilfe in Winsen die hohen Anforderungen des International Food Standard, kurz IFS. Jedes Jahr müsse diese Zertifizierung erneuert werden, sagt Peter Rathje, Fachabteilungsleitungsleiter Montage. Die Entscheidung für die Zertifizierung habe man getroffen, um alte Kunden zu halten und für potenzielle Neukunden attraktiv zu sein. "Wir verpacken offene Lebensmittel, und wenn wir da nicht nach internationalem Standard arbeiten, hätten wir am Markt keine Chance."

24 Menschen mit Behinderung sind in der Abteilung tätig, in der sie für die Firma Neuform und zwei weitere Unternehmen Süßwaren abpacken. Heute sind Nougat-Spitzen an der Reihe, die in kleine Tütchen wandern. Nur im Kittel und mit Handschuhen, Haarnetz und speziellen Gummischuhen ausgestattet dürfen die Arbeiter in die Räume hinein. Vorher müssen sie durch eine Schleuse hindurch, in der die Spinde mit ihrer Berufsbekleidung stehen und in denen sie ihre Straßenkleidung lassen.

Kristin Meyer, Kristin Klipp, Christoph Bollwagen und Lars Kaiser blicken im Verpackungsraum konzentriert auf die Nougat-Spitzen und verpacken sie in die Tüten. Im Raum nebenan sorgt Dörte Hinrichs an einer Maschine dafür, dass die Tüten verschweißt werden. Niemand fällt aus der Reihe, jeder erledigt einfach nur seinen Job.

"Das Wichtigste ist, dass die Menschen bei uns eine Tagesstruktur bekommen", sagt Rathje. Und das Schlimmste ist, wenn es mal keine Arbeit gibt und niemand etwas zu tun hat. Die Arbeiter lernen, morgens pünktlich zu sein, Pausen einzuhalten und möglichst konstante Leistungen zu erbringen. 60 Plätze bietet die Werkstatt in Winsen an, an den zwei Standorten in Lüneburg sind es insgesamt 500 Plätze und in Tostedt noch einmal circa 300. An allen drei Orten arbeiten Menschen zusammen, die geistige, körperliche oder psychische Behinderungen haben.

"Unser Fernziel ist es, die Leute in regulären Firmen unterzubringen", sagt Monika Wester, die an den Standorten Lüneburg und Winsen die Produktion leitet. Dafür kommen theoretisch aber nicht nur die besonders geschulten Mitarbeiter im zertifizierten Lebensmittelbereich infrage, sondern auch diejenigen, die in der Abteilung Konfektionierung und Montage arbeiten. Dort sortieren sie unter anderem CDs, Schrauben oder Schleifbänder oder bearbeiten Grillanzünder, die die Werkstatt in Eigenproduktion herstellt.

Mithilfe spezieller Tätigkeitsprofile bewerten die Angestellten der Lebenshilfe die Leistung ihrer Schützlinge, nehmen Defizite zur Kenntnis und fragen sich ganz direkt, was dieser Mensch kann. Wer besonders aussichtsreich erscheint, wechselt in die Abteilung Qubi, die für Qualifizierung, Unterstützung, Beratung und Integration steht.

25 Frauen und Männer sind aktuell in dem Projekt, das Menschen mit Behinderung und Firmen zusammenbringen will. Ein Erfolg stellt sich allerdings selten ein. "In Einzelfällen passiert es, dass sie in eine sozialversicherungspflichtige Stelle wechseln", sagt Monika Wester. Und selbst wenn es anfangs gut laufe, gebe es häufig Rückschläge, sodass die Leute wieder zurückkämen. "Viele scheitern an ganz profanen Dingen wie dem Einhalten der Pausen."

Entsprechend kritisch sieht sie deshalb auch die Inklusion, deren Ziel es ist, Menschen mit und ohne Behinderung zusammenzuführen. Was für den Bildungsbereich angestrebt werde, werde es auf dem Arbeitsmarkt nie geben, sagt Wester. Dazu müsste man die Gesetzeslage grundlegend ändern. "Wir werden immer Menschen haben, die nur sehr wenig arbeiten können." Und welche Firma mache das dauerhaft mit?

Hinzu komme, dass bei vielen psychischen Erkrankungen gerade das Arbeitsumfeld den Menschen überhaupt krank gemacht habe. Stress, Leistungsdruck und der Wegfall von Arbeitsplätzen mit niedrigen Anforderungen - immer mehr Menschen würden in der komplexen Arbeitswelt nicht klarkommen. Liegt der Anteil der Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Werkstatt in Winsen derzeit bei einem Sechstel, geht Monika Wester davon aus, dass es in Zukunft mehr werden.

"Bei uns hat die Arbeit an sich einen ganz hohen Wert", sagt Peter Rathje. Die Lebenshilfe biete den Menschen die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun und am Arbeitsleben teilzuhaben - wenn auch auf einem anderen Niveau als auf dem ersten Arbeitsmarkt. "Was bei uns drei bis acht Leute machen, muss im normalen Job ein einziger Arbeiter schaffen."

Da ist sie wieder, diese Zwickmühle, in der die Werkstätten stecken. Was ist für den Menschen gut und was für die Firmen? "Außenstehende würden vielleicht sagen, dass manche hier den ganzen Tag ja gar nichts Richtiges machen", sagt Rathje. Dabei ist allein schon die Struktur in der Werkstatt für diese Menschen eine wichtige Hilfe, ihr Leben ein Stück lebenswerter zu finden.