Polizei führt Kindern mit simulierten Unfällen vor Augen, dass es nicht “uncool“ ist, beim Radfahren den Kopf zu schützen. Sondern überlebenswichtig.

Harburg. Sven Schaadt und Heiner Thiede setzen den Radfahrer vorsichtig auf sein Gefährt. Er hat einen quietschgrünen Helm auf. Dann steigt Sven Schaadt in einen dunkelblauen VW Golf, legt den Rückwärtsgang ein und setzt gut 50 Meter zurück. Dann schaltet er in den ersten Vorwärtsgang. Und gibt Gas. Zehn Kinder reißen die Augen weit auf.

Der Radfahrer ist zum Glück ein hölzerner Geselle, eine Puppe, ein sogenannter Dummy. Der Golf nähert sich jetzt, er ist 30 Kilometer pro Stunde schnell. Ein höheres Tempo wäre für die Kindergruppe womöglich zu schockierend, sagt Albrecht Hocks, wie Schaadt und Thiede ein Mitarbeiter der Dekra. Da knallt es auch schon. Die Kinder schreien. Der Radfahrer-Dummy fliegt durch die Luft. Schlägt auf der Fahrbahn auf. Bleibt in einer verdrehten Körperhaltung auf dem Asphalt liegen. Das Auto ist verbeult, eine große Delle verunziert die Windschutzscheibe. "Zum Glück war das kein echter Mensch", sagt eines der Kinder. Zum Glück, da haben die Kinder recht.

Doch leider passieren Unfälle wie dieser viel zu oft, und dann sitzen keine Dummys im Sattel. "Die Hauptursache für Fahrradunfälle im Straßenverkehr ist, dass die Kinder auf der falschen Straßenseite fahren oder die Radwege verlassen. Es passiert auch oft, dass sie beim Überqueren der Fahrbahn unachtsam sind", sagt Axel Stadie, Polizei-Verkehrslehrer in Harburg. Er organisiert kostenlose Fahrradseminare für Neun- bis Dreizehnjährige. Zusammen mit seinem Team möchte er erreichen, dass Kinder sensibilisiert werden und verstehen, dass das Helmtragen nicht einfach eine weitere sinnlose Regel ist, die Eltern aus purer Langeweile aufstellen. Nicht umsonst heiße es morgens: "Schatz, vergiss deinen Helm nicht."

Bei acht von zehn Fahrradunfällen erleidet der Kopf Schaden. Einen solchen Unfall, wie ihn die Kinder gerade gesehen haben, hätte kein Schädel heil überstanden. "Wenn man die Delle, die in der Scheibe ist, mit ungeschütztem Kopf ohne Helm macht, dann ist die Melone offen", sagt Sven Schaadt ganz schroff. Ernste Worte, die der Dekra-Mitarbeiter mit einer ganz bestimmten Betonung vor den Kindern fallen lässt. Die Dekra ist in diesem Bereich spezialisiert. Bei schweren Verkehrsunfällen versucht der Verein, den Verlauf zu rekonstruieren und mögliche Ursachen festzustellen.

"Wir haben diese Unfälle sonst immer viel horrormäßiger dargestellt. In den Kopf haben wir Blutblasen eingebaut und einen Chip, der den Dummy bei einem starken Zusammenstoß mit einem harten Gegenstand 'Oh, ich sterbe' rufen lässt", erzählt Albrecht Hocks. Das habe aber zu Klagen und Empörungen geführt, fügt er hinzu. Die Eltern empfänden das als menschenverachtend. Der realitätsnahe Unfall sei aber so schon schockierend und abschreckend genug dargestellt worden, sagt er anschließend. Reaktionen der Kinder: "Horrormäßig", "Oh, mein Gott", "heftig", "überraschend". Alle starren das Loch in der Scheibe, den kaputten Helm, das zerstörte Fahrrad und den verkrümmten Dummy an. Genau diese Reaktion wollen die Verkehrslehrer hervorrufen.

+++ Polizei geht an Schulen +++

Martina Lehnhof, Verkehrslehrerin an den Schulen in Neugraben, erklärt einem Mädchen, dass das kaputte Rad einfach ersetzt werden könne, der Mensch allerdings nicht. "Deine Rübe hier, die können wir nicht so einfach neu kaufen", sagt sie und streicht dem blonden Mädchen über den Kopf.

Vier Verkehrslehrer sind bei diesem zweiwöchigen Fahrradseminar dabei. Mit weniger Personal könnte die Gruppe von zehn Kindern auch nicht ausreichend betreut werden. "Bei so großen Gruppen wäre es mit zwei Leuten schwierig genug, Sicherheit zu gewährleisten. Diese Unfälle hier sind für die Kinder ein Schock, sie rennen vielleicht los, mitten ins Geschehen. Außerdem können wir mit mehr Personal auch einen intensiveren Unterricht anbieten", sagt Thorsten Pagel, Verkehrslehrer aus Wilhelmsburg.

Die Kinder wollen den Versuch immer wieder sehen, jedes Mal ein erneutes Aufschreien der Gruppe. Die Tachonadel steht auch jedes weitere Mal exakt auf Tempo 30. "Die Kinder sehen, dass auch eine so geringe Geschwindigkeit einen verheerenden Schaden anrichten kann. 30 Kilometer pro Stunde kommen einem immer so langsam vor, wir zeigen das Gegenteil", sagt Axel Stadie. Auch bei dieser Geschwindigkeit sei die Überlebenschance ohne Helm gleich Null, fügt er hinzu. Thorsten Pagel hält den grünen Helm, der mittlerweile von innen Schaumstoff verliert, in die Delle der Windschutzscheibe. "Seht ihr, Kinder, bei dem Zusammenprall hat der Helm so ein tiefes Loch hinterlassen. Jetzt stellt euch mal vor, wie das Ganze ohne Helm ausgesehen hätte", teilt er den Kindern ganz bedacht mit.

In den 14 Tagen des Seminars haben die Kinder sehr viel Sicherheit und Erfahrung dazugewonnen. Besonders dieser simulierte Unfall wird ihnen noch lange im Gedächtnis bleiben. Neun- bis Dreizehnjährige kommen zwar gerade in ein Alter, in dem es uncool ist, einen Helm zu tragen, aber bei dem Anblick des Dummys wird dieser Aspekt wohl ab sofort gern in Kauf genommen. Lieber ausgelacht werden mit einem quietschgrünen Helm auf dem Kopf, als "keine Rübe mehr zu haben" - das will die Polizei vermitteln. Mit weiteren Fahrradseminaren soll dieser Gedanke ganz bald auch bei vielen weiteren Kindern gefestigt werden.