Im Zirkus Willibald spielen Kinder für Kinder. Die Darsteller tanken Selbstsicherheit. Und nach der Show werden die Requisiten ausprobiert.

Wilhelmsburg. Der Wilhelmsburger Lehrer Wilhelm Kelber-Bretz, 56, ist voll in seinem Element. An diesem Nachmittag hat er sich groß in Schale geschmissen; im blau-grünen Jackett und mit einer braunen Fliege um den Hals gestikuliert er auf der großen Bühne im Bürgerhaus und gibt 400 Kindern im Saal Anweisungen: "Und jetzt bitte Applausstufe 3, dann dürft ihr schreien und mit den Füßen trampeln!"

Der Saal tobt, der Pädagoge ist zufrieden, und die Vorstellung kann beginnen. An diesem Nachmittag ist Wilhelm Kelber-Bretz einmal nicht Lehrer an der Stadtteilschule Wilhelmsburg und nicht Geschäftsführer des Forums Bildung Wilhelmsburg. An diesem Nachmittag ist er Direktor: Zirkusdirektor, und hat eine Rasselbande von 40 Kindern durch ein Programm zu führen.

Wilhelm Kelber-Bretz' Zirkus, der Zirkus Willibald, gastiert an diesem Nachmittag auf der großen Bürgerhaus-Bühne. Willibald ist auf der Elbinsel eine Institution: Seit 18 Jahren machen hier Wilhelmsburger Kinder gemeinsam mit Erwachsenen für Kinder Zirkus. An diesem Tag steht der erste Teil eines "musikalischen Zirkustheaters" auf dem Programm: "Die rote Kuh". Und die beginnt erst einmal mit einer kleinen Panne: "Bitte die richtige Musik einlegen!", appelliert der Zirkusdirektor in Richtung Regie, und die Vorführung geht noch einmal los.

Jungen und Mädchen der Klasse 5 f der Stadtteilschule Wilhelmsburg laufen mit bunten Tüchern auf die Bühne und schwenken sie über ihren Köpfen. Kurz danach entern auch noch Fünf- und Sechsjährige der Kindertagesstätte Kirchdorfer Straße die Bretter.

Melissa steigt in eine Zauberkiste. Kinder fesseln ihre Hände und sie kommt in einen Sack. Der Zirkusdirektor verschließt Sack und Kiste und Caroline steigt oben drauf. Jetzt ist es Zeit für den Auftritt von Mimi Loop alias Monika Els in blauem Kostüm und mit blauer Perücke. Sie öffnet mit dem Zirkusdirektor die Kiste - und heraus treten Melissa und ein anderes Mädchen, beide sind aneinander gefesselt. Die 400 Kinder im Saal sind begeistert und geben "Applausstufe 3".

Auch Kinder des Turn-Clubs Wilhelmsburgs sind in ihren roten T-Shirts Teil des kurzweiligen Programms. Behände türmen sie sich zu einer Pyramide auf, und ein Mädchen holt eine Blume herunter, die von der Decke baumelt.

Jubel kommt auf im Saal, als eine rote Kuh mit roten Gummistiefeln über die Bühne trottet. Die Kuh fängt an zu tanzen, afrikanisch, türkisch und russisch, und Ulrich Kodjo Wendt begleitet sie auf dem Schifferklavier. Ein Junge sagt in einem Deutsch, das so nicht seine Alltagssprache ist: "Die Kuh hätte nicht gedacht, dass man ihr so etwas zumuten würde."

Zum Schluss gibt es ein kleines Schattenspiel: die Kuh springt über den Mond, bricht die Sichel ab und fängt wieder an zu tanzen. Und Mimi Loop sagt: "Und die Kuh grämte sich, verlor den Appetit und brach immer öfter in Tränen aus. Jetzt soll sie sich einen anderen Stern suchen, und so kommt es, dass man die rote Kuh manchmal herumlaufen sieht, auch hier in Wilhelmsburg."

Nach der Vorführung sind die beiden Organisatoren, Volkmar Hoffmann vom Bürgerhaus, der auch den Clown spielt, und Zirkusdirektor Wilhelm Kelber-Bretz sehr zufrieden mit ihren Schützlingen. Im Frühjahr 2013 wollen sie das komplette fünfteilige Stück auf die Bühne bringen - dann werden 120 Kinder und Erwachsene auf den Brettern spielen, die die Welt bedeuten.

"Unsere Kinder, die so viele Sprachen sprechen, gewinnen durch den Zirkus Selbstsicherheit", sagt Wilhelm Kelber-Bretz. "Sie lernen, dass man gehörig üben muss, wenn man Erfolg haben will. Das stärkt die Kinder, weil sie durch den Applaus erfahren, ob sie gut oder schlecht waren. Unsere Aufgabe als Betreuer ist es, den Rahmen so zu gestalten, dass die Kinder erfolgreich sind."

Im für Wilhelmsburg so wichtigen Jahr 2013, dem Ausstellungsjahr der Internationalen Gartenschau und der Internationalen Bauausstellung, wird der Zirkus Willibald 20 Jahre alt. Bis dahin werden Hunderte von Wilhelmsburger Kindern die Zirkusschule genossen haben. "Wir sind auf dem Sprung zu sehr aufwendigen Aufführungen mit Musik und Erwachsenen zusammen", sagt der Sozialpädagoge Heinz Wernicke. "Aber wir erwarten von unseren Zirkuskindern keine Höchstleistungen wie andere Kinderzirkusse. Wichtig ist, dass die Kinder sich mit Freude bewegen und mit Spaß dabei sind."

Jürgen Dege-Rüger, 61, von der Koordinierungsstelle Bildungsoffensive Elbinseln der Internationalen Bauausstellung bezeichnet den Kinderzirkus Willibald als "wichtige Mitmachaktion für Kinder, so wie auch die Lesewoche, die Forscherwoche und die Kochwoche. Hier lernen die Kinder mit Kopf, Herz und Händen - da lacht jedes Pädagogenherz in den Himmel".

Nach dem Auftritt ist vor dem Auftritt. Als die Lichter auf der Bürgerhausbühne erlöschen, nutzen 50 Wilhelmsburger Kinder die Gelegenheit, sich an Hula-Hoop-Reifen, Einrädern, Jongliertellern, Keulen und Seilen auszuprobieren. Und Mädchen der Klasse 8 b der Stadtteilschule schminken und verkleiden die Jüngeren - sie sind der Nachwuchs des Zirkus Willibald, der von den Elbinseln nicht mehr wegzudenken ist.