Ulf Merbold ermahnt unsere Gesellschaft zu mehr Kraft für Visionen. Die Reise zum Mars sei die Herausforderung dieses Jahrhunderts

Hittfeld. Dr. Ulf Merbold ist einer von nur insgesamt 525 Menschen, die jemals in den Weltraum geflogen sind. Allein deshalb wird niemand bestreiten, dass der populäre deutsche Wissenschaftler eine globalere Perspektive auf die irdischen Probleme hat als die meisten anderen Erdbewohner. Neugier und Abenteuerlust seien den wohlhabenden Gesellschaften auf dem Erdball verloren gegangen, sagt der Astronaut in einem Gespräch mit dem Abendblatt vor seinem Vortrag am Dienstag in Hittfeld. "In meinen Augen sind wir lahm geworden", mahnt der 70-Jährige, "wir sind eine Gesellschaft, die den Wohlstand verwaltet, aber nichts Visionäres gestaltet."

Die Wirtschaftsförderungsgesellschaft im Landkreis Harburg (WLH) hat den bekanntesten deutschen Astronauten als Redner für ihre Reihe "Treffpunkt Innovation" gewonnen. Normalerweise ist dies ein Club-Format für einen Kreis von 30 bis 40 Besuchern. Was der Weltraumfahrer zu sagen hat, wollten 200 Gäste hören. Deshalb wich die WLH in das Veranstaltungszentrum "Ric" in Hittfeld aus.

Wie eine lahm gewordene Gesellschaft ihren Wissensdurst, und damit einen der wichtigsten Antriebkräfte des Menschen, erneuern kann, ist für Ulf Merbold klar. Der Wissenschaftsastronaut plädiert für die Rückkehr zum Mond, um die fantastischste Reise der Menschheit vorzubereiten: eine bemannte Marsexpedition. "Der Flug zum Mars ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts", sagt er, "und auf dem Mond können wir die Betriebserfahrung dazu machen." Gemeint ist eine Mondstation, in der Menschen das Leben in einer lebensfeindlichen Umwelt üben.

Der Mars sei für die Menschheit heute das, was für Kolumbus das "Meer der Finsternis" bedeutet habe, um einen Weg nach Indien zu finden. Ulf Merbold hält einen bemannten Flug zum Mars noch in diesem Jahrhundert für möglich. Auf die Frage, ob dies einer internationalen Mission gelingen werde oder die Chinesen allein das Rennen machen werden, zuckt der Wissenschaftler vielsagend mit den Achseln. "Wenn wir nicht zu Potte kommen", sagt er noch, "werden die Chinesen die erste Mondstation bauen."

Die Amerikaner haben ihre Programme zur bemannten Raumfahrt zurückgefahren. Ulf Merbold plädiert dafür, dass die Europäer allein eine Mondexpedition planen. Europa sollte auch eine eigene Raumfähre entwickeln.

Zurzeit stellen die Russen das einzige Transportmittel, um Menschen auf die Internationale Raumstation im Erdorbit und wieder zurückzubringen. Das sei so, sagt Ulf Merbold süffisant, als wenn wir eine Marine-Basis auf der anderen Seite des Ozeans hätten, aber kein Schiff, um dort hinzugelangen.

Das Raumfahrt zu viel koste und die Menschheit sich lieber um irdische Probleme kümmern sollte, dieses Argument lässt Ulf Merbold nicht gelten. "Wir haben genug Geld, wir geben es nur schlecht aus", sagt er. Wer wagt da zu widersprechen?

Der Astronaut, der insgesamt knapp 50 Stunden im Weltraum verbracht hat, bemüht nicht mehr die Teflonpfanne, um den wirtschaftlichen Nutzen von Raumfahrt zu belegen. "Stellen Sie sich vor, wir würden alle Satelliten abschalten", hält er Kritikern entgegen. Ohne Satelliten hätten wir auch kein globales Bankensystem, sagt Ulf Merbold noch und fügt verschmitzt hinzu: "Aber das wäre vielleicht kein Fehler."

Experimente in der Schwerelosigkeit eröffnen neue Wege, Krankheiten auf der Erde heilen zu können. Ohne Schwerkraft verlieren die Knochen des Astronauten schnell an jedem Tag Calcium. Im All könne der Mechanismus dieser Fehlsteuerung erforscht werden, um Knochenschwund behandeln zu können.

Ulf Merbold fesselt sein Publikum vor allem dann, wenn er von seinem Leben als Raumfahrer erzählt. Etwa wie es war, als Wissenschaftsastronaut bei Experimenten als "Versuchsratte" für die Medizin herhalten zu müssen. Tierschützer, scherzt er, hätten sich wohl für ihn eingesetzt.

Die Aufzüge in den USA und Russland, die Astronauten und Kosmonauten vor dem Start hoch zum Raumschiff befördern, hätten eines gemeinsam: Sie ruckelten und ächzten so wenig Vertrauen erweckend wie alte Straßenbahnen. Während des Wartens auf den Start habe sich Ulf Merbold gefragt, warum alle Menschen, die ihm noch beim Einstieg geholfen haben, auf sieben Kilometer Abstand gegangen waren. Ihm sei bewusst geworden, in einem scharf gemachten Geschoss zu sitzen. Wie sich der Start der Rakete anfühlt? "3000 Tonnen Schub unter dem Hintern", sagt Ulf Merbold, "das ist eine sinnliche Erfahrung vom Allerfeinsten."