Schon vor 100 Jahren hatte die Heideblütenstadt Schneverdingen einen Flugplatz. Zahlreiche Besucher strömten zu den Flugvorführungen.

Schneverdingen. Heute steht in der Ernst-Dax-Straße in Schneverdingen die "Eine-Welt-Kirche", die über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Vor 100 Jahren wagten sich hier unerschrockene Pioniere mit ihren zerbrechlichen Flugapparaten in die Luft, Ernst Dax war einer von ihnen. Zu den Flugvorführungen strömten Besucher von überallher, auch der preußische Prinz Heinrich interessierte sich für die Versuchsflüge.

Die Geschichte der Fliegerei in Schneverdingen begann 1909. Der Hamburger Werftbesitzer Max Oertz pachtete ein 500 Morgen großes Heidegelände zwischen Bahnlinie und Pietzmoor am Ortsausgang in Richtung Heber für "Flugversuche und Flüge mit Flugmaschinen", wie es im Pachtvertrag mit dem Grundeigentümer Christoph Brockmann heißt. Die jährliche Pacht betrug 400 Mark.

Weshalb die Wahl damals auf den Heideort Schneverdingen gefallen war, erklärt Stadtarchivar Wolfgang Schmidt: "Die Fläche war eben, nahe am Bahnhof, nicht weit von Hamburg und günstig zu haben." Max Oertz ließ hier Bäume fällen, die Heide abtragen und eine Startbahn errichten. Auch eine Flugzeughalle wurde gebaut, in der die Maschinen untergestellt und repariert werden konnten.

Oertz hatte sich zuvor bereits einen Namen als erfolgreicher Konstrukteur von Segelyachten gemacht, zu seinen Kunden gehörten Kaiser Wilhelm II. und der Stahlmagnat Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. Siege bei internationalen Regatten trugen zum guten Ruf des Hamburger Unternehmers bei, der sich neben dem Yachtbau auch als Flugzeugkonstrukteur versuchte.

Die ersten Motorflüge lagen damals noch nicht mal ein Jahrzehnt zurück. Allgemein gelten die amerikanischen Brüder Wilbur und Orville Wright als die ersten, denen das im Dezember 1903 gelang, doch schon vier Monate zuvor soll der Magistratsbeamte Karl Jatho auf der Vahrenwalder Heide bei Hannover mit einer selbstgebauten Flugmaschine vom Boden abgehoben haben. Und bereits 1901 wird von Motorflügen berichtet, die der aus Deutschland eingewanderte Gustav Weißkopf im US-Bundesstaat Connecticut unternommen haben soll.

Doch während Jathos und Weißkopfs Versuche bald wieder in Vergessenheit gerieten, erlangten die Wright-Brüder internationale Anerkennung, und es gelang ihnen, ihre Erfindung weiterzuentwickeln und sie kommerziell auszunutzen. 1909 wurde in Berlin eine deutsche "Flugmaschine Wright Gesellschaft" gegründet, die Wright-Maschinen verkauften sich gut.

In Deutschland befand sich der Flugzeugbau noch in den Kinderschuhen, und Max Oertz betrat Neuland, als er mit der Konstruktion von Flugapparaten begann. Sein erstes Modell war noch ein Doppeldecker mit einem filigranen offenen Gitterrumpf. Doch Oertz erzielte schnell sichtbare Fortschritte. Bereits sein Typ "V1" war ein zweisitziger Eindecker mit einem stromlinienförmigen, in Anlehnung an den Yachtbau entwickelten geschlossenen Rumpf. Mit 70 und später 100 PS starken Motoren ließen sich beachtliche Flüge absolvieren, die mit dem Zwölf-Sekunden-"Hüpfer" der Gebrüder Wright von 1903 nicht mehr viel gemeinsam hatten.

Der Ruf von der Leistungsfähigkeit der Oertzschen Maschinen hatte sich bis in höchste Kreise des Kaiserreiches verbreitet, so begrüßte man in Schneverdingen den Prinzen Heinrich von Preußen, den Bruder des Kaisers Wilhelm II. Der technisch interessierte Prinz, der selbst einen Pilotenschein besaß, besuchte in den Jahren 1911 und 1912 nicht weniger als vier Mal Schneverdingen, er reiste mit großem Gefolge an, speiste und übernachtete im Hotel Witte.

Der Prinz war der prominenteste Beobachter bei den Versuchsflügen, doch auch die Untertanen im Kaiserreich interessierten sich für das, was sich da am Himmel über der Heide tat. Im September 1910 fand ein öffentlicher Flugtag statt. Schaulustige kamen in Scharen von Hamburg aus mit Sonderzügen zu diesem Schaufliegen nach Schneverdingen.

Oertz entwickelte seine Maschinen ständig weiter, er konstruierte nach dem Doppeldecker mehrere Versionen seines Eindeckers, schließlich wurden auch Überlandflüge von Schneverdingen aus nach Hamburg-Wandsbek und Lübeck unternommen - die Oertz-Maschinen erreichten dabei für die damalige Zeit atemberaubende Geschwindigkeiten von bis zu 150 Stundenkilometern.

Unfälle waren in den Kindertagen der Fliegerei an der Tagesordnung - auch Ernst Dax überlebte die Zeit in Schneverdingen nicht. Im Herbst vor 100 Jahren, am 21. Oktober 1911, stürzte sein Flugzeug beim Landeanflug ab, Dax starb noch an der Unfallstelle. In der Todesanzeige für den Flugpionier, die in der "Deutschen Zeitschrift für Luftschiffahrt" erschien, würdigte Max Oertz die "Umsicht und Unerschrockenheit" des Piloten. "Seine Flüge waren Glanzleistungen, die ihn in die vorderste Reihe der deutschen Flugzeugführer stellten."

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet ihre hohe Geschwindigkeit wurde den Oertz-Maschinen zum Verhängnis. Das preußische Militär wünschte zur Feindbeobachtung langsamere Flugzeuge, den erhofften Auftrag erhielt Oertz nicht. Er verlegte sich deshalb ab 1913 auf den Bau von Wasserflugzeugen. Der Flugplatz in Schneverdingen wurde aufgelöst, das Unternehmen zog nach Warnemünde um.

Heute erinnern in Schneverdingen nur noch die Straßennamen "Am alten Flugplatz", "Max-Oertz-Straße" und "Ernst-Dax-Straße" an dieses Kapitel der Geschichte. Auf dem ehemaligen Flugplatzgelände wurde in den 1950er-Jahren eine Wohnsiedlung erbaut. Die Flugzeughalle kaufte ein Bauer, der sie auf seinem Hof in Wintermoor wieder aufbaute und lang Jahre als Scheune nutzte.

Der ehemalige Schneverdinger Schulrektor Richard Borschel hat ein Buch über die Geschichte des alten Flugplatzes geschrieben, und das Stadtarchiv Schneverdingen besitzt eine Reihe historischer Fotos und Dokumente über diese Epoche. Das 72 Seiten starke Buch von Richard Borschel ist erstmals 1957 und als Nachdruck 1976 erschienen. Für Interessenten ist es im Rathaus der Stadt Schneverdingen erhältlich.