Schicht auf der Rettungswache Lindhorst: Ein Rettungsassistent und eine Notärztin kämpfen um Menschenleben und bieten auch Lebensberatung.

Seevetal. Feiner Nieselregen sprüht gegen die Fenster der Rettungswache Seevetal. Neben der gläsernen Eingangstür steht Carolin Wichelmann und raucht. Mit der freien Hand streicht sie sich ein paar Tropfen aus den kurzen Haaren, eine störrische Ponysträhne springt zurück in die Stirn. Sie nimmt einen kurzen Zug und lässt ihren Blick über die grünen Wiesen schweifen. "Jetzt bin ich erst mal bedient." Seit gut fünf Stunden ist die junge Notärztin im Einsatz, mindestens 19 liegen noch vor ihr. Hinter ihr liegt der vergebliche Versuch, einen herzkranken Mann zurück ins Leben zu holen.

Normalerweise arbeitet die 36-Jährige als Anästhesistin im Krankenhaus Winsen, doch zweimal im Monat tauscht sie den durchgeplanten OP-Alltag gegen unvorhersehbare 24 Stunden auf der Rettungswache. Jetzt ist es gerade ruhig. Drinnen hat André Harz seine dunkelblaue Weste mit der Aufschrift Rettungsassistent an die Garderobe gehängt und füllt am Schreibtisch einen mehrseitigen Berichtsbogen aus. Jeder Schritt wird akribisch dokumentiert.

Die Erinnerungen an die Einsätze, die er auf dem Papier verewigt, verschwinden bald aus seinem Kopf. "Wenn ich gefragt werde, was ich gestern gemacht habe, muss ich schon nachdenken." Auch die Fahrt zum Seniorentreff an diesem Morgen wird in einer Menge ähnlicher Erinnerungen verschwinden. Eine ältere Dame mit Herz-Rhythmus-Störungen, die Notärztin hat ihr ein Medikament gespritzt und ins Krankenhaus Buchholz begleitet. Routine. Der Bericht ist schnell geschrieben und abgeheftet. Ordnung muss sein. Auch im Notarzteinsatzwagen. Nach jeder Fahrt überprüft der Rettungsassistent, er seit 13 Jahren im Landkreis Harburg unterwegs ist, das Fahrzeug und bestückt es neu. Medikamente, Spritzen, Totenscheine. "Peinlich, wenn man davon keinen dabei hat." Einmal ist ihm das passiert, der letzte Zwischenstopp in der Wache lag Stunden zurück, mehrmals waren sie auf dem Rückweg von einem Einsatz zum nächsten Unfallort gerufen worden. Zum Essen bleibt an solchen Tagen keine Zeit.

An diesem Tag kocht André Harz Reis zum Mittagessen. Durch die Fenster fällt hellgraues Licht in die kleine Küche. Dort draußen auf der Terrasse hinterm Haus grillen die Lebensretter im Sommer manchmal. Jetzt leuchtet die Lampe über der Tür auf, ein Alarmton schrillt durch das Haus. "Ich habe es doch gewusst." André Harz stellt die Herdplatte ab. Auf der Arbeit isst er nur noch Gerichte, die auch fünf Mal in die Mikrowelle können. Den Fehler, Gyros und Zaziki auf einen Teller zu tun, hat er nur einmal gemacht.

Im Flur greift Carolin Wichelmann nach ihrer Jacke, durch zwei schwere Sicherheitstüren erreichen die beiden mit schnellen Schritten ihr Einsatzfahrzeug. Das Schiebetor der Garage öffnet sich, der Wagen beschleunigt. Knapp 30 Sekunden sind seit Beginn des Alarms vergangen. Draußen verwischen die Bäume zu grünen Landschaftswänden. Die Digitalanzeige über dem Armaturenbrett zeigt einen Hausunfall in Buchholz an, Person nicht ansprechbar, Notarzt alarmiert. Mit Blaulicht und Martinshorn erreicht das Team ein Mehrfamilienhaus in der Stadt. Ein Rettungswagen ist schon da, im ersten Stock liegt ein Mann auf dem Teppich in seinem Wohnungsflur.

Carolin Wichelmann übernimmt, drückt mit beiden Händen auf den Brustkorb des Mannes, immer wieder. Die Automatenstimme aus dem angeschlossenen Defibrillator ertönt: "Lebensrettende Maßnahmen einleiten." Die Ärztin drückt weiter, vielleicht lässt sich das Herz doch noch zum Schlagen bewegen. Es ist eng und warm im Flur, Deckenstrahler leuchten auf die Retter herab, im Treppenhaus liegen ihre Jacken. Dort hat André Harz den großen Metallkoffer aufgeklappt. Er kennt den Inhalt der Packungen und Fläschchen genau, meistens kommen sie damit aus. Sonst gibt es im Wagen noch einen anderen Koffer, mehrere Taschen, medizinische Geräte und den Medikamentenschrank im Rückraum des Wagens. Diesmal ist das alles nicht nötig.

Jemand stellt das Radio aus. Carolin Wichelmann nimmt die weinende Witwe in den Arm. Wahrscheinlich war es ein Herzinfarkt. Doch die Ärztin weiß es nicht mit Gewissheit, kann es nicht einfach auf den Totenschein des 67-Jährigen schreiben. Sie ruft die Polizei hinzu. Auch wenn sie weiß, dass eine Obduktion so gut wie nie angeordnet wird und die Polizisten, die das ebenfalls wissen, die Sache nur unwillig aufnehmen.

"In diesem Beruf stehst du schnell mit einem Bein im Gefängnis", sagt sie später, beim Rauchen vor der Tür. Auf die medizinischen Herausforderungen seien Notärzte vorbereitet, sie müssen mehrere Jahre Berufserfahrung, auch im intensivmedizinischen Bereich, vorweisen. "Aber auf die ethischen und rechtlichen Schwierigkeiten bereitet dich keiner vor." So sei die Entscheidung, mit einer Reanimation aufzuhören - oder überhaupt zu beginnen - Ermessenssache. Eine Grauzone.

Auch psychisch ist die Arbeit belastend. "Verletzungen machen mir nicht viel aus, auch ein amputierter Fuß ist nicht so schlimm", sagt die Ärztin. Sie redet leise, aber deutlich. Ihre Worte wählt sie mit Bedacht, versucht, die Wirklichkeit präzise zu beschreiben. An ihre Grenzen kommt sie, wenn Kinder sterben oder junge Menschen. Wie der 18-Jährige, der plötzlich tot in der Badewanne lag, ohne dass jemand den Grund kannte. Am schlimmsten war es, in die hoffnungsvollen Augen der Eltern zu blicken - und doch nichts mehr machen zu können. "Das belastet mich. Da bin ich nicht so abgebrüht."

Es ist jetzt Zeit für eine Pause. Carolin Wichelmann lässt sich auf eines der schwarzen Ledersofas im Aufenthaltsraum fallen. Im Fernsehen läuft eine farblose ZDF-Serie. Manchmal guckt sie sich Serien auf DVD an, für die sie sonst keine Zeit hat. Anfangs hat sie sich auch Bücher mitgenommen, Romane und Fachliteratur. "Aber ich brauche hier was Leichtes zur Zerstreuung." Meistens bleiben sie bei Leerlauf sowieso im Gespräch miteinander hängen.

Aus dem Büro nebenan kommen zustimmende Worte, André Harz hat die Füße auf der Fensterbank abgelegt und dreht den Kopf in Richtung Wohnzimmer. Er unterhält sich gern, auch durch Wände hindurch. "Es gibt immer was zu schnacken. Bloß über Einsätze wird nicht geredet." Währenddessen schon, schließlich treffen sie oft auf aufgelöste oder auch aggressive Menschen und müssen zuerst dafür sorgen, dass sich die Lage entspannt. "Kommunikation ist unser Hauptinstrument", sagt er. Besonders viel zu reden gibt es an Feiertagen, dann häufen sich die Anrufe in der Leitzentrale. Der Rettungsassistenz meint zu wissen, warum. "Wenn die Menschen sich besonders einsam fühlen, verspüren sie eben Herzschmerz. Und wir bieten so was wie eine allgemeine Lebensberatung."

Es gebe übrigens keinen Ort im Landkreis, an den sie nicht kämen, sagt André Harz. Unfälle passierten schließlich überall, nicht nur in schönen Ecken. Er kann darüber lachen, hat sich über die Jahre eine professionelle Distanz zugelegt. Seine Kollegin guckt nachdenklich. "Es macht mich traurig, wie viele Menschen in wirklich schlimmen Verhältnissen leben und was für Dramen und Schicksale sich hinter manchen Türen verbergen." Sie ist müde, es ist ihre zweite Schicht innerhalb weniger Tage. Warum sie sich das alles immer wieder antut? Im Krankenhaus liefen die Dinge meist routiniert ab, sagt Carolin Wichelmann nach kurzem Nachdenken. "Es ist Abwechslung für den Geist, ein gewisser Nervenkitzel. Hier geht es um Leben oder Tod."