Porträt: Michael Weinreich verkauft Crêpes, macht Politik und will promovieren - über “Alltagskriminalität im Stalinismus“

Wilhelmsburg. Michael Weinreich, 37, weiß, wie ein guter Crêpe auszusehen hat. Hauchdünn muss er sein und darf nicht zu lange auf der heißen Platte liegen, sonst wird er braun. Gerade ist Michael Weinreich dabei, einem Kunden einen Crêpe mit Nutella zu servieren, auf dem Gerhard-Hauptmann-Platz in der Hamburger Altstadt. 2,50 Euro verlangt er für einen französischen Pfannkuchen mit Schokoladencreme, für einen Becher Kaffee nimmt er einen Euro. "Und wie laufen die Geschäfte?", fragt der Kunde und leckt sich die Schokocreme vom Daumen. "Ich bin zufrieden", sagt Michael Weinreich und lacht.

Der Mann aus Wilhelmsburg, der da im drei mal drei Meter großen Pagodenzelt mit der Aufschrift "Crêpes de France" Crêpeteig dreht, ist kein gewöhnlicher Pfannkuchenverkäufer. Michael Weinreich ist Akademiker und trägt den Titel Magister Artium. Er hat das Studium der Geschichte absolviert und spricht außer Deutsch fließend Russisch. Er ist Schatzmeister des Bundesverbandes der Schausteller und Marktkaufleute. Und er ist aktiv in der Politik: als SPD-Abgeordneter der Bezirksversammlung Mitte und des Regionalausschusses Wilhelmsburg/Veddel, dessen stellvertretender Vorsitzender er ist.

Warum wird ein Mann, der seine Magisterarbeit an der Universität Hamburg über "Die Darstellung des Deutschen Reichs in Prawda und Iswestija zwischen 1939 und 1941" geschrieben und seine Promotion mit dem Titel "Alltagskriminalität im Stalinismus" angemeldet hat, ein Mann, der bisweilen pro Woche in vier Ausschüssen und in der Bezirksversammlung Politik macht und zudem noch im Hamburger Landesvorstand der Arbeitsgemeinschaft Selbständige der SPD, - warum wird so ein Mann Crêpes-Verkäufer? Warum forscht er nicht in einem Institut oder geht in einem Büro einer geregelten Arbeit nach?

"Ich habe gleich nach dem Studium die Führung unseres Familienunternehmens übernommen", sagt Michael Weinreich und lacht wieder. "Hier bot sich die Möglichkeit, gleich richtig im Berufsleben zu stehen."

Michaels Onkel Reinhardt Weinreich, 69, hatte vor 30 Jahren mit dem professionellen Crêpes-Verkaufen angefangen. Auch seine Mutter Susanne, 75, arbeitete im Betrieb. Heute leitet Michael Weinreich die Firma und beschäftigt bis zu 30 Schüler und Studenten, wenn große Feste wie das Alstervergnügen anstehen - dann verkauft Weinreich auch Pizza und Bier.

Einmal hatte Michael Weinreich etwas anderes im Sinn als das Familienunternehmen weiter zu führen: Er bewarb sich zum Ende des Studiums beim Auswärtigen Amt. "Ich habe den Test gemacht", sagt der Wilhelmsburger, "aber es ist nichts geworden. Heute bin ich glücklich mit dem, was ich mache. Wenn das nicht so wäre, würde ich etwas anderes machen."

Michael Weinreich ist Kirchdorfer durch und durch. Er ist in einem Eigenheim am Weidendamm groß geworden - heute lebt er zwei Häuser weiter auf derselben Straßenseite. Nach der Grundschule Stübenhofer Weg besuchter er das Gymnasium Kirchdorf-Wilhelmsburg, das er mit einem Abi-Schnitt von 3,1 verließ. Ein Jahr lang studierte er an der Universität Hamburg Physik, dann wechselte er zu Neuerer und Mittlerer Geschichte. Die Uni verließ er schließlich mit der Magisternote 2.

Russisch hat er an der Uni Hamburg und in Russland gelernt. In St. Petersburg hat er sein Russicum absolviert und für seine Magisterarbeit ein halbes Jahr lang in russischen Zeitungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gelesen. In Moskau absolvierte er ein halbes Jahr lang ein Praktikum bei der Forschungs- und Menschenrechtsorganisation Memorial, die Erlebnisberichte aus den stalinistischen Gulag-Lagern archiviert.

Seinen größten Schatz hat Michael Weinreich in St. Petersburg gefunden: seine Frau Natalia, 37. Die beiden haben zwei Kinder: Georg, 5, und Philipp, 3. Die Jungen werden zweisprachig erzogen. "Meine Frau spricht mit den Kindern Russisch und ich Deutsch", sagt Michael Weinreich. "Wir beide unterhalten uns meist auf Deutsch."

Aber viele Stunden kann Michael Weinreich seiner Familie in der Woche meist nicht widmen - die Arbeit als Selbständiger sowie die politische Arbeit in den Ausschüssen, in der Bezirksversammlung, in der Arbeitsgemeinschaft Selbständige und die Lobbyarbeit für die Schausteller und Marktkaufleute fressen viel Zeit. 2006 ist der Wilhelmsburger in die SPD eingetreten - in den Distrikt Heiligengeistfeld. Dort sind rund 100 Schausteller Genossen. Zwei Jahre später, Michael Weinreich war junger Familienvater, wechselte er in den SPD-Distrikt Wilhelmsburg-Ost, um sich in seinem Stadtteil zu engagieren. Nach einem Jahr als Vorsitzender des Beirates für Stadtteilentwicklung wechselte er in den Regionalausschuss Wilhelmsburg Veddel, seit Februar sitzt er auch in der Bezirksversammlung.

"Die SPD ist meine Partei, weil sie eine klare Vorstellung davon hat, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen soll", sagt Michael Weinreich, "wir tun etwas für alle Menschen." Er selbst hat vier Ziele für die größte Flussinsel Europas: Wilhelmsburg brauche bezahlbaren Wohnraum, auch im Industriegebiet nördlich der Rotenhäuser Straße. Der Hamburger Süden brauche ein klares Verkehrskonzept, bevor die Wilhelmsburger Reichsstraße verlegt wird, und für die Anwohner im Wilhelmsburger Osten dürfe es nicht lauter werden. Die Deichwacht Wilhelmsburg brauche eine neue Unterkunft am Finkenriek. Und das Gelände der Internationalen Gartenschau und der Internationalen Bauausstellung müsse optimal nachgenutzt werden.

Crêpes zu verkaufen und Politik zu machen passe gut zusammen, sagt Michael Weinreich. "Wir brauchen nicht nur Juristen in den Parlamenten, sondern auch Menschen, die aus dem richtigen Leben kommen. Wenn ich Crêpes verkaufe, muss ich nicht ganz so viel nachdenken - die Kraft spare ich mir für die Arbeit in den Ausschüssen."