Im Freilichtmuseum am Kiekeberg in Ehestorf ging es am Wochenende um die Napoleonzeit vor 200 Jahren in der Lüneburger Heide.

Ehestorf. Es ist das Jahr 1811. Norddeutschland und die Hansestädte sind von den Franzosen besetzt. Der Amtsvogt heißt jetzt Maire, das französische Wort für Bürgermeister. Die Nordheide gehört zum Departement Elbmündung mit Sitz in Hamburg. Ein Wort in der neuen fremden Amtssprache löst bei den Bauern Furcht aus: "Konskription", die Musterung der jungen Männer des Dorfes für die französische Armee.

Insgesamt 40 Darsteller der "Gelebten Geschichte" und der Interessengemeinschaft historischer Alltag haben am Wochenende im Freilichtmuseum am Kiekeberg in Ehestorf das Leben der Heidebewohner unter Napoleon in Szene gesetzt und Museum lebendig gemacht. Die Besucher konnten erleben, was sich am Kiekeberg im Jahr 1811 bei den neuen Herren hätte zutragen können.

Ehestorf vor 200 Jahren: Der Sekretär des Unterpräfekten zu Lüneburg, Hannes Knufinke, trifft zur Konskription ein. Acht Tage zuvor hat der frühere kurhannoversche Amtsvogt und jetzige Maire Wilhelm Johann Friedrich Chappuzeau in einem Aushang acht Männer bestimmt, die sich zu Musterung einzufinden haben. Wer flieht, wird zwar nicht mit dem Tode bestraft, aber gejagt und nach Ergreifen in die Armee gezwungen.

Die Konskription ist ein öffentliches Schauspiel, die Dorfbewohner versammeln sich vor dem Gasthaus. "Wer soll meine Familie ernähren?" fragt ein gesunder junger Mann, den der Unterpräfekt nur zu gern in das Infanterieregiment mit Sitz in Hamburg eingezogen hätte. Aber der Mann ist verheiratet - und darf gehen. Ehemänner dürfen nicht eingezogen werden.

Ein Kandidat ist zu alt. Ein anderer hat die Schwindsucht. Ein junger Bursche ist noch zu klein. Der Bürgermeister, der französischen Sprache nur wenig mächtig, hat den Konskriptionserlass offenbar nicht so richtig verstanden. Der Unterpräfekt rügt ihn dafür. Beim nächsten Mal solle er die Gesetze besser lesen.

Ein tauglicher junger Mann aus reichem Haus kauft sich frei. Er stellt einen Ersatzmann. Mindestens 7500 Franc muss er ihm dafür bezahlen. Ein Notar muss den Handel beglaubigen. Für ein kleines Vermögen, das Geld reicht für den Kauf eines eigenen Hofes, zieht der Ersatzmann in den Krieg - in der Hoffnung zu überleben. Er hat einen schlechten Handel gemacht, wie die Geschichte zeigen wird: Nur jeder 100. Soldat des Infanterieregimentes aus Hamburg kehrt von dem Russland-Feldzug Napoleons zurück. Nur drei Jahre später im April 1814 endete die kurze Franzosenzeit in der Lüneburger Heide. Die Rolle des Maires Wilhelm Johann Friedrich Chappuzeau, er hat in der Napoleonzeit wirklich gelebt, spielt Dr. Nils Kagel. Der Volkskundler leitet das Projekt "Gelebte Geschichte" des Freilichtmuseums am Kiekeberg. Dabei schlüpfen Laien unter wissenschaftlicher Anleitung in die Rollen von Bauern, Handwerkern, Häuslingen und Mägden und rekonstruieren das Leben in der Lüneburger Heide vor 200 Jahren.

Die Wissensvermittlung als Schauspiel ist in der Fachwelt nicht unumstritten. Es könnte auch Falsches vermittelt werden, sagen Kritiker.

Woher wissen wir überhaupt, welche Kleidung die Bauern vor 200 Jahren getragen haben? Welche Farben hatte sie? "Wir können auf Originale zurückgreifen, etwa aus dem Museum für Völkerkunde ein Hamburg", sagt Nils Kagel. Nach diesen historischen Vorbildern haben die Darsteller der "Gelebte Geschichte" ihre Hemden, Hosen und Jacken geschneidert. Wissenschaftliche Exaktheit geht vor Bequemlichkeit: Die Darsteller tragen Strümpfe aus Heidschnuckenwolle - das kratzt am Bein.

Die Alltagskleidung der Bauern wirft dem Experiment "Gelebte Geschichte" mehr Rätsel auf - Originale, vergleichbar mit den alten Jeans bei uns im Kleiderschrank, sind schlicht nicht erhalten. Die 200 Jahre alte Arbeitskleidung sind deshalb Rekonstruktionen aus Abbildungen und Schriftquellen. Nachlassverzeichnisse enthielten wichtige Informationen, sagt Nils Kagel. In ihnen sind auch die Kleidungsstücke aufgelistet, sogar die Farben.

Die gespielten Szenen der Konskription dürfte sich damals tatsächlich so abgespielt haben. "Es gibt genaue Beschreibungen zu dem Ablauf", sagt Dr. Kagel, "die Militärgeschichte ist in allen Einzelheiten festgehalten worden."

Die möglichst exakte Annäherung an die Realität von vor 200 Jahren ist dem Wissenschaftler wichtig. Nils Kagel und andere Darsteller schlafen deshalb in der Nacht zu Sonntag in einem der Museumshäuser. Nicht auf Feldbetten, sondern auf Stroh - wie damals die Bauern und Napoleons Soldaten.