Abendblatt-Reporter Andreas Schmidt war während der Terroranschläge in New York. Er schildert, wie er die Katastrophe erlebte.

New York/Harburg. "Was wollen Sie da, Sir?", fragt mich der Taxifahrer. Mit Glück habe ich gerade ein gelbes Cab am Broadway geschnappt, es soll mich in die Nähe des Nord-Turms des World Trade Centers fahren - der Südturm ist gerade zusammengebrochen wie ein Kartenhaus. Die 7. Avenue geht Richtung Süden und ist fast autoleer. Auf der Straße große Menschentrauben, alle laufen weg vom Unglück, in Richtung Norden.

11. September 2001, vor zehn Jahren: Ich arbeite in New York als Korrespondent für den Springer Auslandsdienst (SAD). Meine Subway bleibt an diesem Morgen einmal wieder länger im Tunnel stecken, und als ich gegen 9.30 Uhr ins Büro an der 500 Fifth Avenue in Manhattan komme, sind zwei Flugzeuge in die World Trade Center geflogen.

Mein Kollege, der Frühschicht hat, ist schon zur Unglücksstelle unterwegs. Unsere Sekretärin sagt der Agentin eines Spitzengeigers, der gerade in New York weilt, das Interview ab, und ich laufe schnell zum Buchregal, denn ich habe eine - wie sich herausstellen wird falsche - Ahnung: Die beiden Türme werden umkippen. Ich frage mich, wie hoch sie sind, und lese: 417 Meter der Nordturm und 415 Meter der Südturm. Mit dem großen Mast ist der Nordturm knapp 527 Meter hoch - also nicht dichter als 800 Meter herangehen, sage ich mir, und fahre mit dem Fahrstuhl nach unten.

Das Problem an diesem Tag, den die Amerikaner "Nine-Eleven", "9/11", nennen werden: Keine Taxen weit und breit. Endlich hält ein Cab. In Höhe der Canal Street, rund einen Kilometer vom World Trade Center entfernt, höre ich auf der Rückbank des Taxis eine gewaltige Detonation - eine riesige, milchig-graue Wolke steigt in den Himmel, auch das zweite Hochhaus ist gerade vom Erdboden verschwunden. Mein Taxifahrer biegt rechts ab und sagt: "Keinen Yard weiter!"

Ich steige aus. Dichte Rauchschwaden kommen mir entgegen und kurz darauf die ersten Menschen. Männer haben ihre T-Shirts ausgezogen und atmen durch das Hemd. Frauen ziehen sich ihre Blusen hoch, und versuchen, Luft durch den Hemdkragen zu bekommen. Viele haben weiße Asche auf der Kleidung, auf den Armen. Arme und Beine bluten. Helikopter kreisen.

"Ich arbeite im 92. Stock", erzählt mir eine Frau um die 40 Jahre in einem Hauseingang. "Auf einmal bebte der Turm. Ich bin raus aus meinem Büro und bin zu Fuß alle 92 Stockwerke runtergelaufen. Dann bin ich raus und sofort weitergegangen. Denn ich habe die ganze Zeit gedacht: Mein Gott, der ganze Turm kann doch umkippen. Als ich unten auf der Straße war, habe ich gesehen, wie sechs Leute aus den brennenden Fenstern des anderen Turmes gesprungen sind."

Neben der Frau steht ein Mann um die 30 Jahre: "Ich sollte heute eigentlich bei Goldman Sachs mitten im Finanzdistrikt arbeiten. Denn ich versuche gerade, einen Job zu bekommen. Ein Trainer sollte mich diese Woche einweisen, aber er hatte keine Zeit. Vielleicht wäre ich sonst schon nicht mehr am Leben."

Ich gehe die Canal Street weiter. Sirenengeheul. Krankenwagen und Feuerwehrwagen brausen vorbei. Ein Mann spricht mich an, er ist in Israel geboren, lebt seit vielen Jahren in New York. "Diese Länder, die hinter diesem Anschlag stehen, müssen von der Landkarte verschwinden!", sagt er. "Sonst kommt der nächste Anschlag und der nächste. Wie Japan und Deutschland im Zweiten Weltkrieg müssen diese Länder einen ganz großen Denkzettel bekommen. Sonst geht der Terror immer weiter. Da darf man keine Gnade haben - und wenn es Frauen und Kinder trifft. Auch Japan und Deutschland haben erst nach einem großen Denkzettel gelernt."

Der Rauch wird dichter. Ich mache mich schnellen Schrittes mit den Massen auf in Richtung Norden. Auf einem großen Bildschirm an der 5th Avenue zeigt CNN immer wieder die Bilder, die im Gedächtnis der Menschheit eingemeißelt sind: die beiden Türme des World Trade Centers, Arbeitsplatz für 50 000 Menschen, stürzen ein. "Mein Gott, da stirbt mein Bruder", wimmert ein junger Mann um die 25 Jahre und klammert sich an ein Baugerüst. Sein Bruder arbeitet nur vier Kilometer weiter südlich im WTC-Südturm. Die Menschen auf der Straße starren gebannt auf den Bildschirm: Der Südturm stürzt wie eine Sandburg zusammen - in Sekunden, als ob er nicht 30 Jahre lang den Stürmen und Donnern und Blitzen, die oft heftig über Manhattan toben, getrotzt hätte.

"Oh noooooo!", schreit der junge Mann und wirft sich auf den Asphalt. Eine Frau wirft sich über ihn, schreit um Hilfe. Zwei Männer heben den Mann von der Straße und setzen ihn auf einen Fenstersims. Tausende andere auf der Straße starren fassungslos auf den Bildschirm und raunen immer wieder: "My God! - Mein Gott!" Ich bete, dass der junge Mann an diesem 11. September 2001, der allein in Manhattan 2759 Menschen den Tod bringt, einen Anruf bekommt: "Hi Brother, I am fine - Hallo Bruder, mir geht es gut."

Ich jogge ins Büro - zwei Kollegen und ich müssen ganz schnell die Texte für unsere deutschen Zeitungen schreiben - der Zeitunterschied beträgt sechs Stunden. Abends sind wir dann alle ziemlich groggy.

Gegen 21.30 Uhr mache ich mich mit meinem Tretroller auf zur Wohnung in der 82nd Street. Ich rolle durch den Central Park - er ist fast menschenleer: Auf einer Strecke von zweieinhalb Kilometern sehe ich nur vier Menschen. Das Bedrückende an diesem Abend in Manhattan: Ein sehr unangenehmer, schmieriger Geruch nach angesengten Kabeln wabert in Richtung Norden, weg von der Unglücksstelle, die die Welt bald "Ground Zero" nennen wird.

"Steht der Michel an der Elbe noch?", will meine damals fast vier Jahre alte Tochter am Abend wissen. Der Michel steht noch, ganz sicher, sagt der Papa in der kleinen Upper-West-Side-Wohnung, und jetzt machen wir die Fenster zu, sonst raubt uns die schlechte Luft die Träume.

Meine Frau und meine Tochter hatten die Bilder von den brennenden Türmen im Fernsehen gesehen und meine Frau hatte gesagt, "da ist jetzt auch Papa!". Michelle sagte "toll!" und fing an zu malen: schwarze Türme, schwarze Sonne, schwarzer Tag in NYC - aber schwarze Schmetterlinge steigen auf, die halten die bösen Flugzeuge auf.

Glück und Unglück liegen oft so nah beieinander: Elf Tage bevor die Zwillinge fielen, am Abend des 30. August 2001, hatte meine Familie noch die World Trade Center erklommen. Wir genossen die Weite und den Wind auf dem Südturm. Michelle kurvte mit dem Roller über die Dachterrasse und ärgerte sich darüber, dass ihre Münze im Fernglas stecken blieb und dass der Nordturm den freien Blick auf den Hudson River versperrte. Eine New Yorkerin aus Leipzig bat uns zum Gruppenbild mit Sonnenuntergang - dafür glänzte Lady Liberty endaugustgold-orange in der Abendsonne, und wahr waren die Worte Emma Lazarus' auf dem Sockel der Freiheitsstatue in der Mündung des Hudson Rivers: "Kommt alle zu mir, die Müden, die Armen, die bedrückten Massen, die es nach freier Luft gelüstet."