“Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr“, texteten wir früher, wenn jemand die Regeln des Anstands verletzte.
Das hieß in der "guten alten Zeit" der 50er- und 60er-Jahre zum Beispiel noch, dass er sich einen Bleistift ausgeliehen oder sich auf den angestammten Platz eines anderen gesetzt hatte, ohne zu fragen.
Doch was sind diese "Sünden" im Vergleich zu den rüden Sitten unserer Tage! Da wird gerempelt und geschubst, da wird in öffentlichen Verkehrsmitteln hemmungslos gegähnt und geniest, ohne dass das Gegenüber auch nur im Traum daran dächte, die Hand vor den Mund zu halten. Doch all dies soll ja nun bald der Vergangenheit angehören. Man benimmt sich wieder, lautet die Parole. "Das Pendel schlägt jetzt wieder in die andere Richtung", erklärte eine befreundete Lehrerin. " Gutes Benehmen ist in."
Die ersten zarten Triebe dieses neu erwachten Bewusstseins durfte ich jüngst in einer Arztpraxis erleben. Eine gebeugte alte Dame versuchte verzweifelt, in ihren Mantel hinein zu kommen. Im Wartezimmer saßen vorwiegend junge Leute, die gelangweilt in Zeitschriften blätterten.
Ein weißhaariger Herr um die 80 erhob sich schwerfällig, humpelte zum Garderobenständer und half der Dame galant in den Mantel. Allgemeines Staunen war die Folge. Der große Blonde mit der roten Baseballkappe stieß seinen Nachbarn an: "Echt cool, Olli", meinte er, "das ist noch alte Schule. Da hättest du auch drauf kommen können."
Und ehe ich mich versah, sprang Olli auf, öffnete der alten Dame die Tür und riet ihr noch besorgt: "Gehen Sie aber schön vorsichtig, damit Sie nicht ausrutschen. Ist nämlich verdammt rutschig draußen." Echt cool!