Arbeitslose Jugendliche haben den Frachtensegler flott gemacht. Sonntag werden im Stöckter Hafen an der Elbe bei Winsen die Segel gesetzt.

Winsen. Sachte schaukelt der dicke grüne Rumpf im Wasser, kleine Welle klatschen gegen die neu vernietete Außenwand. Zwei leuchtend hellbraune Baumstämme ragen vom leeren Deck der Melpomene in den grauen Himmel. Nakula Plantener hängt in der Takelage. Der angehenden Bootsbauer befestigt einen Umlenkblock in dem System, über die Rolle soll das Tau zum Setzen des vorderen Klüversegels laufen. Das Klüverfall ist eines der Puzzleteile, die noch fehlen, damit die Männertruppe am Sonntag die Segel setzen kann. Der gemeinsame Kraftakt soll der Höhepunkt des Hafenfestes für das einst marode und jetzt herausgeputzte Projektschiff des Jugendhilfeträgers die "Quäker-Häuser" werden.

Seit fast zwei Jahren restaurieren arbeitslose Jugendliche im Stöckter Hafen den 1895 im benachbarten Boizenburg gebauten Frachtensegler. Das Projekt soll ihnen helfen, in der Arbeitswelt unterzukommen. Wer hierher kommt, hat meist keine gerade Laufbahn hinter sich, bei vielen weist die Biografie Brüche auf, einige leiden unter psychischen Erkrankungen. Im Durchschnitt bleiben die jungen Menschen, 20 waren es bisher, vier Monate dabei.

"In dieser Zeit versuchen wir, mit ihnen eine Perspektive zu entwickeln", sagt Uwe Hillebrecht, Geschäftsführer der Buchholzer Quäker-Häuser und an diesem Tag ausnahmsweise in hafentauglicher Arbeitskleidung. 80 Prozent der Teilnehmer seien entweder direkt in eine Ausbildungsstelle oder in weiterführende Bildungsmaßnahmen vermittelt worden. Anfangs lautet das Ziel jedoch oft erst einmal, pünktlich zu erscheinen und verlässlich zu arbeiten.

Driton Krasniqi, Cordhose, Fleecejacke und dunkler Bartansatz am Kinn, kommt seit einer Woche in den Hafen. Dafür steht der Neu Wulmstorfer um halb sechs auf, drei Stunden später beginnt die Arbeit. Drei Monate kann er bleiben. "Ich ziehe das auf jeden Fall durch", sagt der 22-Jährige und rückt das schlammfarbene Cap zurecht, das locker auf seinem kurzgeschorenen Kopf sitzt. Am liebsten würde er im Straßenbau arbeiten. Doch dafür fehlt ihm ein Schulabschluss. Deshalb kniet Driton jetzt hier auf dem nassen Deck zwischen Seilen und Planen. Handwerklich habe er zwar bisher nie gearbeitet. "Aber das macht echt Spaß." Zielstrebig setzt er einen Schraubenschlüssel an eine 56-Millimeter-Schraube am Fuß eines Klappmastes an und versucht, sie zu lösen. "So einen großen Schlüssel hatten wir nicht, deshalb haben wir kurzerhand einen aus einem Flacheisen gefertigt", sagt Bernd Thal. Der 49-Jährige, der sich mit graublauem Sweatshirt und schwarzer Cordweste perfekt in die Umgebung einpasst, begleitet das Projekt als handwerklicher Leiter. Seit 20 Jahren restauriert der gelernte Boots- und Schiffbaumeister Schiffe nach historischem Vorbild. Beim Innenausbau der Melpomene, die der gemeinnützige Projektträger mit Hilfe von Sponsoren gekauft hat, hat Thal darauf geachtet, vor allem Holz zu verwenden.

Die Vorpiek ist so gut wie fertig. Eine steile Leiter führt in die Kabine im vorderen Teil des Seglers, auf engstem Raum haben die Männer vier Kojen aus hellem Kiefernholz eingebaut. Den restlichen Bauchraum der Melpomene haben die Jugendlichen und ihre Anleiter komplett ausgeschlachtet und die Wände mit Kiefernbrettern ausgekleidet. Das Holz haben sie an den Ecken abgerundet und mit weißer Brandschutzfarbe lackiert. Hier entstehen -

neben der kleinen Kombüse und den geplanten Räumen mit Toilette und Dusche - einer weitere Kabine sowie ein "Salon". An einem großen Tisch sollen einmal zwölf Leute Platz finden. So viele werden gebraucht, um den Zweimaster mit den sechs Segeln in Fahrt zu bringen. "Koordination ist enorm wichtig", sagt Hillebrecht.

Auf und unter Deck arbeiten Crew und Teilnehmer Hand in Hand. "Jeder hat eine Aufgabe, die seinen Stärken entspricht", sagt Sozialpädagoge Bodo Heinsch. Der 55-Jährige mit den vielen Lachfältchen im wettergebräunten Gesicht ist gelernter Elektriker und gehört ebenfalls zum Team der Melpomene, er ist überzeugt, dass hier jeder Teilnehmer auf seine Art vorankommen kann. "Manche müssen Handgriff für Handgriff lernen, einige können gleich an Maschinen arbeiten." Andere kochen für die Mannschaft, reinigen Werkzeug oder sortieren Schrauben in der kleinen Werkstatt im Hafen. Hierher ist Driton geschlendert, um den schweren Schraubenschlüssel zurückzubringen. Jetzt sitzt er auf einer alten Blechtonne vor der Werkstatt und bearbeitet eine Schraube mit einer Drahtbürste. Wenige Meter weiter streicht ein Jugendlicher mit blondem Bürstenschnitt prüfend über einen aufgebockten Douglasienstamm. Der Holzmast ersetzt den alten, fast grauen Mast, der ausgemustert daneben liegt und vielleicht zu einem Kunstwerk umgearbeitet wird. Doch erst mal legt der junge Mann eine Raucherpause ein.

"Viele Jugendliche halten anfangs nicht lange durch", sagt Bodo Heinsch, "aber das ist in Ordnung." Mit der Zeit entwickelten die meisten Begeisterung für die Arbeit. "Sie machen etwas, worauf sie stolz sein können. Besonders das Schweißen finden die Jungs immer ganz toll." Das sei die Grundidee des Projekts, sagt Uwe Hillebrecht. "Die Teilnehmer erleben, dass sie etwas schaffen können." Daran erinnert nicht nur der Name des Seglers: Die Melpomene von Stöckte ist nach der Tochter des griechischen Gottes Zeus benannt - sie führte Schwache durch den Sturm des Lebens. Die Melpomene war zudem das erste Frachtschiff Deutschlands, das von einer Kapitänin gefahren wurde. An der Restaurierung war bisher jedoch erst eine junge Frau beteiligt. In Zukunft sollen zum Beispiel durch einen Gastronomiebetrieb auf dem Hafengelände auch verstärkt Jugendliche, deren Stärken nicht im Handwerklichen liegen, eingebunden werden.

Es ist Zeit für die Mittagspause. Nakula Plantener klettert den Mast herunter. "Ich tüddel noch eben die Taue auseinander", ruft er und macht sich ans Werk. Für den 32-Jährigen, bereits diplomierter Landschaftsökologe, ist die Arbeit auf dem Projektschiff ein Traumjob. "Es macht unheimlich Spaß, mit den Jugendlichen, die ja alle ganz unterschiedlich sind, zu arbeiten." Viel ist schon geschafft, der Metallrumpf wurde ausgebessert, neue Masten warten auf die erste Segelsetzung, der Innenausbau geht voran. Läuft alles nach Plan, kann die Melpomene im kommenden Sommer zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder auslaufen. In Zukunft sollen auch Tagesgäste vom Stöckter Hafen aus mit dem Traditionssegler auf Tour gehen. Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, dass - während die Männer ohne viele Worte die letzten Handgriffe vor der Pause erledigen - zwischen den nun hellgrauen Wolken fast ein bisschen Sonne zu erahnen ist.