Zum Tag des vermissten Kindes erzählt Fatima El Alfi von der Suche nach ihrer entführten Tochter

Lüneburg/Harburg. Fatima El Alfi, 58, zückt ihre Brieftasche und holt ein kleines Passbild heraus. Es zeigt ihre Tochter Yasmin, als sie sechs Jahre alt war, Zöpfe und eine Brille trug, eine Aufnahme aus dem Jahr 2000. El Alfi lächelt. "Da hatten wir alles endlich überstanden. Wir sind durch die Hölle gegangen", sagt sie und ihre Hände fangen an zu zittern.

Damals hatte ihr Ehemann Osama die kleine Yasmin in Ägypten entführt. Neun Monate lang hatte Fatima versucht, sie zu finden und sie wieder nach Deutschland zurück zu bringen. Heute, am Tag des vermissten Kindes, berichtet sie dem Abendblatt in einem Café in Lüneburg von den fürchterlichen Monaten, die sie zwischen Hoffen und Bangen verbracht hat, in denen sie nicht wusste, wo sich Yasmin befand.

1700 Kinder gelten in Deutschland derzeit als vermisst. Die Anzahl der Vermisstenanzeigen ist allerdings viel höher. 100 000 Fälle werden pro Jahr von der Polizei bearbeitet. Wenn der Sohn oder die Tochter nicht vom Spielplatz nach Hause kommt oder seit Stunden aus der Schule zurück erwartet wird - das ist für Eltern eine Horrorvorstellung.

"Nahezu alle vermissten Kinder kehren nach kurzer Zeit wieder in ihr gewohntes Lebensumfeld zurück", sagt der Hamburger Polizeipressesprecher Andreas Schöpflin. Dem stimmt Carl Bruhns, Gründer der Elterninitiative "Vermisste Kinder" zu. "Etwa 98 Prozent der Vermisstenfälle klären sich innerhalb der folgenden Stunden und Tage. Zwei Prozent bleiben allerdings spurlos verschwunden." Von Jahr zu Jahr, so Bruhns, steigt der Anteil von Kindern, die von einem Elternteil ins Ausland verschleppt werden. "Vor allem bei islamischem Hintergrund ist es fast völlig unmöglich, die Kinder wieder zurück zu bekommen", sagt Bruhns.

Wie im Fall von Fatima El Alfi. Schon lange hatte es in der Beziehung zwischen der Jordanierin und dem Ägypter gekriselt. "Er hatte mich und die Kleine ständig kontrolliert, kam mit meiner Selbstständigkeit nicht zurecht", sagt sie. Fatima hatte eine Ausbildung als Altenpflegerin abgeschlossen, wollte mit ihrer Tochter in eine eigene Wohnung ziehen. Weg von ihrem Mann. Dafür hatte sie sich Geld zurückgelegt. "Kurz bevor ich mich von ihm trennen wollte, schlug er vor, eine Reise zu machen. Er kann sehr charmant sein, wirkt sehr überzeugend."

Nach einigem Zögern sagte Fatima zu. Dann ging es in eine kleine Stadt in der Nähe von Port Said in Ägypten. Osama brachte seine Familie bei einem Cousin unter. "Schon am Flughafen hatte ich ein komisches Gefühl", sagt sie. Als sich ihre Angst verstärkte, "wollte ich mit meiner Tochter nur noch weg." Als ihr Mann merkte, dass seine Frau ihre Koffer packte, schnappte er sich Yasmin und lief weg. Als beide nach Stunden nicht wieder auftauchten, war ihr klar, "der hat unser Kind entführt." Niemand konnte und wollte ihr sagen, wo sich ihre Tochter befand. "Ich war voller Angst, wurde kopflos, bin zu meiner Familie nach Jordanien geflüchtet." Stundenlang fuhr sie mit dem Bus durch die Wüste, kam erschöpft in Amman an. "Meine Verwandten haben mir gesagt, ich müsse zurück nach Deutschland. Von Jordanien aus gab es keine Chance, Yasmin wieder zu finden."

Wieder zurück in Lüneburg ging sie zur Polizei. "Da hat man mir auch gesagt, dass es schwierig wird, in Ägypten eine Suche zu starten." Eine Beraterin der Ausländerbehörde und Helfer vom Weißen Ring sowie vom paritätischen Wohlfahrtsverband bestärkten sie darin, nicht aufzugeben. Der Weiße Ring griff der verzweifelten Frau auch finanziell unter die Arme, damit sie nach Ägypten fliegen konnte. "Mir war klar, ich musste selbst aktiv werden." Woche für Woche machte sich Fatima neue Hoffnungen, ließ Yasmin suchen, starrte auf Briefkasten und Telefon. "Ich war mit meine Nerven am Ende, hatte zehn Kilo abgenommen, konnte nicht mehr schlafen." Nach fast sieben Monaten kam Osama überraschend nach Deutschland, wollte sich mit Fatima in Lüneburg treffen. "Ich habe zugesagt und die Polizei informiert. Die haben ihn dann in einem Café festgenommen." Wo Yasmin unterdessen lebte, verriet er allerdings nicht. Fatima machte sich auf den Weg in die kleine Stadt am Nil, in der Yasmin lebte. Irgendwo. "Auch die Botschaft konnte mir wenig helfen. Ich irrte durch die Straßen, sprach alle möglichen Leute an, zeigte das Foto meiner Tochter." Ohne Erfolg. "Niemand wusste etwas oder wollte es mir nicht sagen." Nach drei Wochen lief ihr Visum ab, und "mir ging langsam das Geld aus, ich musste zurück."

Daheim in Lüneburg verließ sie der Lebensmut. "Nach der Arbeit im Seniorenheim schleppte ich mich nach Hause, dachte an gar nichts mehr." Dann, eines Abends, klingelte das Telefon. Ein Cousin ihres Mannes meldete sich. "Willst du deine Tochter sprechen", fragte er und gab den Hörer Yasmin. "Mama, hol mich nach Hause", sagte die Kleine. Fatima kann nicht mehr weiter sprechen. Sie ringt um Fassung, ihr kommen die Tränen. "Ich bin dann, so schnell ich konnte, wieder nach Ägypten. Erneut half ihr der Weiße Ring. Dort brachte jener Cousin von Osama das kleine Mädchen in ein Hotel. Mutter und Tochter schlossen sich in die Arme. "Es war, als ob mein Herz aus der Brust sprang", sagt sie und weint.

Dann mussten die beiden nur noch zwei Hürden nehmen. "Meine Tochter brauchte ein neues Visum, und es gab da ja noch die Passkontrolle am Flughafen." Nach vielen Laufereien wurden ihr endlich die Papiere gewährt. "Ich weiß noch, was der Beamte mir sagte. Er wünschte mir alles Glück der Welt", sagt sie. Dann ging es zum Flughafen. "Wieder musste ich mit den Beamten diskutieren, da das Visum meiner Tochter ja so kurzfristig ausgestellt worden war." Alles ging gut. "Mit Schwung liefen wir beide die Treppen zur Wartehalle am Flughafen hoch. Später hob der Flieger ab, und uns beiden wurde so leicht."

Heute ist Yasmin 17 Jahre alt und macht ihren Realschulabschluss. "Ich kann nicht vergessen, was ich damals mitgemacht habe", sagt Fatima. Nach dem Gespräch bleibt sie noch sitzen und betrachtet nachdenklich das Kinderfoto von Yasmin.