Alfred Stephan Mattes und Monika Schröder bringen zeitgenössische Werke ins Pflegeheim und setzen auf Dialog

Alles fing auf der Uhlenhorst an. Und zwar im Pflegeheim. Dies war der richtige Ort für die beiden Künstler Alfred Stephan Mattes und Monika Schröder, ganz neue Wege zu gehen: Sie kehrten den elitären, weißen Ausstellungsräumen den Rücken und holten die Kunst ins Pflegeheim. Nicht solche, die mit lieblichen Blumensträußen die Nerven beruhigt oder mit idyllischen Darstellungen von den eigenen Gebrechen ablenken soll. Sondern solche, die nachdenklich stimmt, die aufwirbelt und vielleicht den Horizont weitet. Zunächst waren die Arbeiten ohne Thema, doch schnell wurden die Gedankenanstöße der Bewohner aufgenommen und zum Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung: Alter, Krankheit, Sinn des Lebens. Heute spannt sich der Organizer von Mattes durch die Fülle von Künstlervisitenkarten darin. Künstler, mit denen er schon "Kunst in Pflege" realisiert hat - oder noch realisieren will.

Das Künstlerpaar versteht die Ausstellungsreihe "Kunst in Pflege", die es seit 2003 mit einer jährlichen Ausstellung im Pflegeheim gibt, als Bereicherung: "Wir sind froh, uns auseinandersetzen zu dürfen. Wir verstehen unsere Kunst als Dialogangebot." Zum Konzept gehöre deswegen auch ein sogenannter Reaktionsbogen, erzählt Mattes mit einem Hut auf dem Kopf, so als wollte er gleich auf Safari gehen. Der Künstler sitzt auf der Außenterrasse der Cafeteria von Pflegen & Wohnen in Heimfeld. Helle Sonnensegel spenden Schatten. Vereinzelt sitzen Senioren am Tisch. Allein. Bis ein älterer Herr an den Tisch kommt, um ein Bier zu trinken und zuzuhören. Es ist Hans-Werner Bewerich, 89 Jahre alt, der sich für die Kunst interessiert.

Von den Gedanken und Gefühlen der Bewohner lebt das Konzept "Kunst in Pflege". "Wir wollen die Kunst ins Leben, in den Alltag holen und auf Augenhöhe kommunizieren", sagt Mattes. Und dass die Reaktionen oft lebendig, manchmal sogar aufbrausend sein können, dass erfuhren die Künstler auch. So wie damals bei der 75 Jahre alten Kläre Husmann, die resolut auf dem Reaktionsbogen ihre Beurteilung mitteilte "Scheißkollektion". Der Anfang für eine wunderbare Kommunikation war gemacht. Denn die Künstler drückten Frau Husmann ihre "Pflegeanleitung" für die Kunst in die Hand. Darauf war unter anderem halb ironisch, halb ernst zu erfahren: man solle die Kunst regelmäßig besuchen und ihr "Aufmerksamkeit" schenken.

Aus Dialogangeboten wurden so Dialogprojekte: Denn Kläre Husmann befolgte die "Pflegeanleitung", machte sich Tag für Tag zu den Kunstwerken im Heim auf und befand danach über die "Scheißkollektion": Einiges sei doch gar nicht so übel. "Aus dem Widerstand ging schließlich ein Porträt hervor", erklärt Mattes, der sich mit Kläre Husmann über Monate traf und sich ihr Leben erzählen ließ. Diese entpuppte sich trotz Krankheit als lebendige Frau, aus der die Geschichten nur so heraussprudelten. So als hätte sie nur darauf gewartet. Einige schrieb die alte Dame gleich selbst auf, die traurigen Geschichten protokollierte Mattes als Interview.

Heraus kam als künstlerisches Objekt ein Lebensturm voller Schubladen, in dem die Geschichten aus Kläres Leben aus kleinen Schubfächern gezogen werden können. Daneben ein Sessel, um vielleicht in einer der Geschichten zu schmökern. Heute ist die lebendige Kläre tot, doch ihr Lebensturm steht auf Ausstellungen und wurde von einem Heim erworben.

"Kunst in Pflege" ist wie ein frischer künstlerischer Wind, der über die quietschenden Linoleumflure der Pflegeheime weht. Das Bild der Senioren aus dem Comic hat Künstler Bastian Raiss beispielsweise zu farbintensiven Malstudien veranlasst - von Witwe Bolte über Oma Duck bis hin zu Professor Bienlein. Ebenfalls mit einer angenehmen Prise Humor empfängt ein uralter Rollator die Besucher, umhäkelt mit rosa Garn. Zu dem Objekt von Karin Boine gehört der Duft von uraltem Lavendel. Auch den Bewohnern entlockt das Relikt ein Lachen, die mittlerweile mit hoch modernen Rollatoren auf den Fluren unterwegs sind. Ironisch und symbolisch steht das Objekt für eine fast vergessene Generation. Der Fotograf Christian Geissler überrascht wiederum mit berührenden Fotografien von den Händen alter Menschen. Hände, die Geschichten erzählen. Mit der Zeit wurde das Projekt "Kunst in Pflege" immer dialogischer und prozesshafter. Und natürlich stieg auch das Vertrauen: So konnten Themen wie Haushaltsauflösung, Abschied und neuen Lebensabschnitte angegangen werden. Diese Themen riefen schon mal Proteste auf den Plan, nicht bei den Bewohnern, sondern bei den Angehörigen. Ob das denn ginge? So etwas Trauriges?

Die Bewohner allerdings, die wollten Klartext reden: "Es gab einige, die gar keine Erinnerungsstücke mehr hatten, weil sie nach einer Zeit im Koma aus dem Krankenhaus zurückgekehrt seien und jemand inzwischen alles weggeworfen hatte. Diese Menschen waren richtig traumatisiert", erinnert sich Monika Schröder.

Viele Arbeiten kreisen deswegen um die Dimension der Erinnerung, um so etwas wie eine Lebenssumme, ein Fazit. Monika Schröder hat mit Tapeten und alten Rahmen die berührende Geschichte einer Wohnungsauflösung als Fotoinstallation gestaltet. Ins Bild rückt dabei auch das oft Ausgeschlossene und Tabuisierte des Alters: vom unzähligen kleinen Nippes, den das Leben angehäuft hat, über Bäder mit Hilfseinrichtungen für die tägliche Pflege bis hin zu unzähligen Medikamentenschachteln, die sich auf dem Tisch türmen und von Tagen der Krankheit und nachlassenden Kräften erzählen.

Mattes, Schröder und die beteiligten Künstler geben den Bewohnern eine Stimme. Allerdings ist es ein Dialogprojekt, bei dem sich die Stimmen mehr und mehr verweben: jung, alt, Künstler, Bewohner. So forschten die Künstler mit den Bewohnern gemeinsam nach positiven Aspekten des Alters: Auf Geburtstagstorten aus Styropor spitzten sie diese zu werbe-sloganartigen Sprüchen zu. Fast provozierend liest man da: "90 Jahre dank neuer Herzklappe." Oder "80 Jahre - den Sinn des Lebens verstehen." Der Clou zu diesen Lebenstorten war eine Backperformance unter dem Motto "Früchte des Lebens": gemeinsam wurde mit den Bewohnern gebacken, gegessen, Fragen diskutiert und so Anknüpfungspunkte für die nächste Ausstellung geschafften. Wieder Jahre später hängen die Bilder der Backaktion als neckische Leuchtinstallation an der Wand. Genau in dem Stile, wie Dönerbuden ihre Kundschaft über die Angebotspalette an Fastfood informieren - doch jetzt stehen nicht Falafel & Co auf dem Display, sondern die Fragen, die das Leben so stellt.

Einen Hauch Traurigkeit und Nostalgie verströmt die Ausstellung, aber auch überbordende Fröhlichkeit und wohltuende Direktheit. Eine Bewohnerin gibt auf dem Flur ein spontanes Riesenkompliment: "Die Kunst macht offener und aufnahmefähiger." Alfred Stephan Mattes und Monika Schröder lassen ihre Projekte übrigens unter dem Titel "Agentur für permanente Kunst im Alltag" laufen.

"Kunst in Pflege" (Retrospektive 4) bei "Pflegen & Wohnen" in Heimfeld, An der Rennkoppel 1, bis 30. Juni. Führungen nach Verabredung.