10 816 Gefäße hat Karsten Marquardt mittlerweile gesammelt. Und aus allen wurde Bier getrunken

Appel. Die Redensart "Scherben bringen Glück" muss Karsten Marquardt wie blanker Zynismus vorkommen. Im Keller seines Eigenheims in dem Waldörtchen Appel bei Hollenstedt entfaltet Glas eine eigentümliche Wirkungsmacht. Hier auf 73 Quadratmetern unter der Erde hat der 62-Jährige sein Deutsches Bierglasmuseum eingerichtet. Zum Tag des deutschen Bieres, immer am 23. April, schaute das Abendblatt sich in dem Kosmos um, in dem Biergläser den Eigenwert wie Kunstwerke haben.

Vom Boden bis zur Decke stehen sie, meist drei hintereinander, lückenlos: 10 816 verschiedene Gläser, Krüge, Seidel, Stangen, Flöten, Kelche und Pokale - so unterschiedlich könne Trinkgefäße heißen - hat Karsten Marquardt seit 1980 gesammelt. Der Englischlehrer, der auch Kunstgeschichte studiert hat, besitzt damit zweifellos eine der bemerkenswertesten Sammlungen deutscher Brauereisouvenirs. Sein ältestes Sammlungsstück stammt aus dem Jahr 1896, ein Bierglas der Schlossbrauerei Kiel. Der Schriftzug ist handgeritzt.

Nicht jedes Bierglas kommt bei Karsten Marquardt in die Vitrine oder ins Regal. Er sammelt ausschließlich Gläser westdeutscher Brauereien, also aus den "alten" Bundesländern. Dass eine solche Eingrenzung Sinn macht, lässt sich mit Zahlen belegen: Die Sammlung in Appel umfasst allein Gläser von 2800 Brauereien, davon sind 1725 "aufgelassen", wie es im Fachjargon heißt, dass bedeutet, sie sind vom Markt verschwunden.

Spezialist für Biergläser aus dem Gebiet der heutigen neuen Bundesländer war Herbert Jess aus Hamburg, ein Freund von Karsten Marquardt. Zu einer Vereinigung der beiden Sammlungen west- und ostdeutscher Biergläser ist es aber nie gekommen. Nach dem Tode von Herbert Jess sei dessen Sammlung versteigert und auseinander gerissen worden. Eine Integration in das Deutsche Biermuseum kam nicht infrage: "Vom Aufwand und Finanziellen her war es für mich nicht machbar", sagt Karsten Marquardt.

Mehrere tausend Brauereisouvenirsammler gibt es in Deutschland, schätzt Marquardt. Seitdem Händler, wie echte Sammler zur Unterscheidung die bloßen Geldmacher nennen, die Internet-Börse E-Bay nutzen, seien die Preise für Sammlerstücke stark angezogen. Seltene Weizenbiergläser würden für mehr als 1000 Euro gehandelt.

Karsten Marquardt kauft nicht im Internet. Zuwachs für sein Museum bekommt er in den Sammlerkreisen. Organisiert sind die Brauereisouvenirsammler in zwei Vereinen, im Internationalen Brauerei Kulturverband und der "Konkurrenz" mit dem umständlich-technischen Namen Förderergemeinschaft von Brauerei-Werbemittelsammlern. Der Appeler hat in der Szene einen guten Namen. Er gilt als Sammler, nicht als Händler. Die Leute wissen, dass ein Liebhaberstück bei ihm gut aufgehoben ist.

Für Karsten Marquardt wird es immer schwieriger, neue Exponate zu finden. Seit 1980 hat er allein oder zusammen mit seiner Frau ("sie hat Verständnis für mein Hobby") auf Deutschland-Touren die Brauereien des Landes abgeklappert. Höhen und Tiefen hat er dabei erlebt. In Berching stieg ein Familienmitglied der Brauerei Neumayer spontan auf den Dachboden und überreichte dem Gast aus Norddeutschland ein gläsernes Erbstück. Das sind magische Momente im Leben eines Sammlers. Abfuhren erhält Karsten Marquardt auch: "Nein, das ist für die Erben", bekommt er manchmal zu hören.

Neuzugänge kommen meist von den kleinen Gaststättenbrauereien, deren Anzahl in Deutschland wieder zunimmt. Karsten Marquardt hat eine 39 Seiten lange so genannte Fehlliste. Die enthält etwa 1800 Namen von Brauereien, die einst existiert haben. Ob diese aber jemals auch Gläser oder andere Werbemittel produziert haben, ist nicht bekannt. Würde ein Bierglas aus der Fehlliste auftauchen, müsste das Karsten Marquardt wie die Entdeckung des Heiligen Grals vorkommen. Ein Glas der 1945 aufgegebenen Sternbrauerei Hamburg käme dem gleich. Ob die Fabrik auf der Veddel jemals Gläser produzieren ließ, ist nicht bekannt.

Wie selten Neuentdeckungen für Karsten Marquardt inzwischen geworden sind, zeigt die Museumsstatistik: Sein 10 000. Bierglas stellte er 2006 ins Museum, seitdem sind "nur" 816 hinzugekommen. Der Sammler konzentriert sich nun auf etwa 100 Jahre alte Biergläser. Sein Lieblingsstück stammt aus dieser Bierglasgeneration, die nicht den Liter, sondern den Zwanzigstel als Maßeinheit kannte: ein Pokalglas der Bamberger Weißtaubenbräu, etwa aus dem Jahr 1910. "6/20" Bier passen hinein.

Keines seiner 10 816 Gläser scheint zufällig im Museum zu stehen. Karsten Marquardt weiß zu jedem Glas etwas zu sagen. Die Anordnung hat System: Die Biergläser stehen nach Motiven geordnet: Schlösser, Löwen, Bären, Kronen und noch zwanzig weitere Zeichen, mit denen Brauereien ihre Identität ausdrücken.

Ein Zeitungsartikel über das Brauereisterben löste vor 31 Jahren bei Karsten Marquardt, der selbst am liebsten dunkle Biere aus Franken trinkt, die Sammelleidenschaft aus. "Sammeln heißt bewahren", sagt er und bedauert, dass Sammeln aus der Mode gekommen sei. Aber warum Gläser und nicht Bierflaschen? "Eine Wand von Gläsern hat ihren eigenen, faszinierenden Reiz", sagt er. Wer das Biermuseum in Appel betritt, versteht auf Anhieb, was er meint. Zutritt nach Terminvereinbarung, Telefon 04165/21 74 73.