Moorburger veranstalten ein Gegenprogramm zu den großen Hamburger Lesetagen des Energieversorgers

Moorburg. Nachmittags auf dem Gelände der ehemaligen Grundschule in Moorburg: Die kleinen Besucher der KiTa spielen draußen, ein Steppke klettert auf das hölzerne Spielschiff und blickt sich stolz um, als er es geschafft hat. Er schaut auch zum Kraftwerk Moorburg hinüber. Am anderen Ende des Ortes sieht er einige "Windspargel", dessen Rotoren sich langsam drehen.

Auch der Musiker Ulrich Kodjo Wendt hat die Energieversorger-Anlagen täglich vor Augen. Er hängt Plakate am Zaun der alten Grundschule auf. Einige Moorburger wollen sich am Festival "Lesetage selber machen - Vattenfall tschüss sagen" beteiligen. Unter dem Motto "Moorburger Prominenz liest zum Thema Chaotische Teile aus Energie und künstlerischem Widerstand" wollen sie am 8. April in der alten Grundschule ihren eigenen Beitrag zu den Protestveranstaltungen leisten.

Hörbuch-Autorin und Festival-Initiatorin Astrid Matthiae ist gekommen, um die Moorburger Teilnehmer kennen zu lernen. "Bei unseren Lesetagen machen 33 Initiativen, Autoren und auch Kulturzentren mit", sagt Matthiae. Mit dem Veranstaltungsreigen solle dem Energiekonzern Vattenfall ganz gezielt eine Absage erteilt werden. "Mit seinen Pannenreaktoren Krümmel und Brunsbüttel sowie dem Kraftwerk Moorburg bedroht das Unternehmen eine ganze Region und schädigt das Klima obendrein", sagt die Aktivistin.

Mit dabei sind unter anderem Harry Rowolt, Wiglaf Droste und Jutta Ditfurth. Zu Beginn der Aktion, am Mittwoch, 6. April, gibt Harry Rowolt ab 20 Uhr im Club "Uebel & Gefährlich" Erzählungen zum besten. Die Moorburger sind also in guter Gesellschaft. "Eigentlich liegen wir ja mit dem Vattenfall-Kohlekraftwerk und den Windkraftanlagen vor den Haustüren im Fokus der Diskussionen um Energieversorgung. Gerade jetzt während der Atom-Katastrophe in Japan, gibt es ein Umdenken. Energie aus alternativen Quellen wie Wind, Sonne und Wasserkraft ist einwichtiges Thema geworden", so Wendt.

Doch die Moorburger wollen auch auf andere Umweltfaktoren aufmerksam machen, die die Existenz des Dorfes bedrohen: auf die Pläne, einen Schlickberg in unmittelbarer Nähe Moorburgs aufzutürmen, auf die Umweltbelastung durch die Spülfelder, den Lärm, der von Autobahn und Güterbahnstrecke ausgeht und darauf, dass die Hamburg Port Authority (HPA) Moorburg immer noch als Hafenerweiterungsgebiet ansieht. "Wenn die Hafenquerspange hier auch noch gebaut wird und die Abluft aus dem Kraftwerk die Feinstaubwerte in die Höhe schnellen lässt, dann werde ich hier wegziehen", sagt die Moorburgerin Luise Haeggqwist, 34, die bald ihr Baby zur Welt bringt. Claudia Kuhlenkampff, 37, stimmt zu. "Dann hält es niemand mehr aus. Dabei ist es ein so schöner Ort, so grün, mit herrlichen Gärten und idyllischen Häusern", schwärmt sie. Vor einigen Jahren sind die beiden Frauen mit ihren Lebenspartnern nach Moorburg gezogen - obwohl sie wussten, dass es viele Faktoren gibt, die das Fortbestehen des Ortes bedrohen. "Es ist eine Nische, in der wir so leben können, wie wir es uns vorstellen", so Kuhlenkampff.

Junge Familien finden hier freie Plätze in der Kindertagesstätte. Moorburg bietet ländliches Ambiente, in denen Kinder noch auf der Straße spielen und mit ihren Gokarts durch die stillen Straßen fahren können. Das Wohnen ist halbwegs günstig. So vermietet die Saga ein 156 Quadratmeter großes Haus, frisch renoviert, für etwa 1250 Euro, inklusive Nebenkosten

"Die Gartengrundstücke sind traumhaft. So etwas ist in der Stadt undenkbar", sagt Haeggqwist. Und auch das Kulturzentrum in der Alten Grundschule ist etwas Besonders für die jungen Familien. Hier manifestiert sich die Dorfgemeinschaft, treffen Generationen, neue Bewohner und Alteingesessene, aufeinander. Dort trainiert unter anderem eine Damengymnastikgruppe, und die Jugendfeuerwehr findet sich ein. Es gibt Kaffee- und Kuchenrunden sowie Kneipenabende und Meditationsangebote. Das wollen viele Harburger nicht missen.

Die 14 Jahre alte Lisa Larsen bereitet sich im ehemaligen Lehrerzimmer auf ihren Beitrag zum Konkurrenzfestival vor. "Es ist ja nicht so, dass wir hier in Moorburg keine Nachwuchstalente zu bieten haben", sagt Kulenkampff. Lisa will ihre Gedichte vortragen. "Wir leben seit sechs Jahren in Moorburg. Es ist sehr schön hier", sagt sie. Der Kraftwerk-Bau hat allerdings ihren Alltag verändert. "Die Arbeiter kommen mit ihren Autos hierher. Sie parken die Straßen zu und schmeißen Müll in die Gärten." Einige sind auf das hübsche Mädchen aufmerksam geworden. "Wie die mich angucken und was die mir hinterher brüllen - das macht mir Angst."

Einige Häuser, an denen Lisa noch vor einigen Jahren täglich vorbeigekommen ist, wurden abgerissen. "Es entstehen immer mehr Lücken in den Straßenzügen. Das Dorf zeigt Auflösungserscheinungen", sagt Haeggqwist und deutet auf einen Steinhaufen am Moorburger Elbdeich. Dort rollten die Bagger vor einigen Tagen an, und aus einem Haus wurde ein Ruine. Ob all diese Unruhe, die permanente Konfrontation durch bedrohliche Umweltbedingungen nicht auf Dauer zur Resignation führt? "Wir wollen uns wehren, mit Aktionen und Veranstaltungen auf unsere schwierige Lebenssituation aufmerksam machen. Immer wieder", sagt die junge Mutter.

Vattenvall reagiert cool auf die Kritik und das Engagement von Matthiae und den Moorburgern. Auf Nachfrage der Rundschau heißt es: "Jedes Angebot, das die kulturelle Vielfalt erhöht, tut Hamburg gut. Das gilt für das Harbour Front Festival ebenso wie für die Initiative der GEW. Vattenfall hat sich in den vergangenen dreizehn Jahren als zuverlässiger Veranstalter der Lesetage in Hamburg erwiesen und wird sein Engagement in der Kultur- und Leseförderung fortsetzen. Wir haben dafür die Unterstützung der Autoren, die nach wie vor gern zu den Lesetagen kommen, und den Betreibern der Veranstaltungsorte. Zudem ist das Interesse bei unseren Besuchern ungebrochen. Allein im vergangenen Jahr nahmen mehr als 12 000 Kinder und Erwachsene an den 122 Veranstaltungen teil. Diese Abstimmung mit den Füßen ist für uns Vertrauensbeweis und Ansporn zugleich."

Für Konkurrenzfestival-Initiatorin Matthiae ist das Bemühen des Energieversorgers "Aktivismus, um das angeschlagene Image aufzupolieren." Auch sie will sich um Besucher bemühen, auf ihre Art. Als sie mit den Moorburgerinnen mit Plakaten im Gepäck durch den Ort geht, stoppt ein Polizeiwagen. Ein Beamter steckt den Kopf aus dem Fenster und fragt, ob es sich bei dem Aufzug etwa um eine Demonstration handele. "Nee, aber Sie bekommen jetzt erst einmal etwas zu lesen", sagt Matthiae und drückt ihm einen Flyer in die Hand.

www.lesetage-selber-machen.de