Ein Kleinod wird 100 Jahre alt. Die Kunststätte Bossard in Jesteburg feiert ihren runden Geburtstag und lädt renommierte Forscher in die Heide ein

Dort, wo morgens der Frühnebel über den moosigen Waldboden huscht und bei Einbruch der Dämmerung die Vogelstimmen laut werden, dort, wo der Geruch von Tannennadeln und Heidekraut sich mischen und der Waldboden die Schritte der Besucher aus der Großstadt schluckt, dort liegt die Kunststätte Bossard. Ein holpriger Waldweg führt sie an jene im Herzen des Waldes bei Lüllau verborgene Stätte, an der Johann Michael Bossard seinen Traum von einem die Kunstgattungen vereinenden Gesamtkunstwerk verwirklichen sollte. An einem Sonntag Ende März stehen vor dem Bossardweg 95 lauter glänzende Mittelklassewagen aufgereiht: Die Kunststätte Bossard feiert das 100-jährige Bestehen der Kunststätte mit einem Symposium.

Ähnlich wie die angereisten Wissenschaftler und Gäste wird Johann Michael Bossard die Heideidylle wahrgenommen haben, als er vor 100 Jahren seinen Fuß erstmals in die Gegend setzte. Ein Auftrag für ein Familiengrab von August Hülse führt den Künstler, der an der Kunstgewerbeschule in Hamburg Bildhauerei unterrichtete, 1911 hinaus aus der Stadt nach Wiedenhof im Landkreis Harburg. Und seine Augen, von denen eines bereits im Alter von elf Jahren in Folge einer Scharlacherkrankung erblindete, machen dort eine Entdeckung. Ein 30 000 Quadratmeter großes Heidegrundstück weckt auf einer Wanderung Bossards Interesse. Wilder Wacholder blüht darauf, Birken und natürlich jede Menge Heidekraut. All das kann Bossard sehen, weil das Gelände auf einer kleinen Anhöhe liegt. Er wird das Grundstück von Peter Stamann aus Jesteburg kaufen und mit dem Namen Wilhelm Tell am 20. November 1912 die Architektenentwürfe unterzeichnen. Bereits zwei Jahre später entstehen Wohn- und Atelierhaus auf dem Grundstück. 1918 beginnt Bossard mit der künstlerischen Ausgestaltung des Hauses zum Gesamtkunstwerk, wegen dem 100 Jahre später renommierte Wissenschaftler aus aller Welt auf dem Podium der "Heideeremitage" sitzen.

Auf dem Podium der Kunststätte Bossard haben um einen flachen Tisch im Halbkreis herum der Politikwissenschaftler und Gesamtkunstwerksforscher Professor Udo Bermbach Platz genommen, eine Größe in seinem Fach, Dr. Roger Fornoff ist aus Belgrad angereist, Debora Dusse aus Frankfurt und als Zeitzeuge ist Harald Wohlthat aus Kiel gekommen, der seine Ferien oft und gerne bei den Bossards auf dem Heidegelände verbringen durfte und dessen Vater zu den Förderern Bossards zählte. Heute ist Wohlthat 83 und kann Anekdoten beisteuern, wie sie als Kinder im Märchenzimmer schliefen.

Obwohl der Kunsttempel mit den Spitzfenstern im prägnanten Backsteinexpressionismus, den Bossard bis 1929 gestaltet sowie der von ihm erschaffene Eddasaal einzigartig sind, führte die Kunststätte bislang ein übersehenes Dasein. Fast so randständig und unbeachtet wie ihr Erschaffer zu seinen Lebzeiten, der sich ab seiner Pensionierung im Jahr 1944 mit seiner Frau Jutta Bossard, einer ehemaligen Schülerin, in die Heide zurückzog und sein Projekt vorantrieb. Heute will man das ändern. Die Kunsthistorikerin Dr. Gudula Mayr, neue Leiterin der Kunststätte und ihrem Team geht es darum, den Bossard auch in der kunstgeschichtlichen Forschung ins Gespräch zu bringen. Ein erster Schritt ist mit dem Symposium auf den Weg gebracht. Eine der Aufgaben ist es, Bossard weiter in seiner Zeit, aber auch ideengeschichtlich mit seiner Realisierung des Gesamtkunstwerks zu verorten. "Singulär" sei dieser Grad der Realisierung, lobte Roger Fornoff aus Belgrad, dem das Gesamtkunstwerk in der Heide trotz jahrelanger Forschung bislang entgangen war.

Die Idee des Gesamtkunstwerks, obwohl begrifflich oft mit dem Namen Richard Wagners verbunden, lässt sich ideengeschichtlich bis zu den Romantikern zurückzuverfolgen. Bei Wackenroder und Tieck finden sich im Kontext musikalischer Reflexionen beispielsweise utopische Überlegungen zu einer Kunstreligion, die alle Kunstgattungen umspannen sollte. Dieses "Sehnsuchtsbild der Romantik", so die Wissenschaftler, sei im 19. Jahrhundert oft auch als Gegenbild zur realen Zerrissenheit in Staat und Politik entworfen worden und mit der Idee des Gesamtkunstwerks eng verbunden.

Die Kunst imaginierte also die Einheit, die das Subjekt längst verloren hatte und der Künstler wurde in diesem Modell auf eine nicht unproblematische Weise als Herrscher erdacht. Auch Bossard, der im Alter von sieben Jahren seinen Vater verlor, in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und zeitlebens einen Hunger nach Weitung seines Bildungshorizontes hatte, hing solchen utopischen Gedanken nach. Mit einer fast schwindelerregenden Kombinatorik deutschen Bildungsgutes - Nietzsche trifft auf Schopenhauer, trifft auf Dante, Goethe und Heraklit, und das Ganze wiederum auf die reiche Sagenwelt der nordischen Mythologie, entwirft Bossard seine Form der Privatmythologie, die er an die Wände wirft oder in monumentalen Tempelzyklen einfängt. Im Kontext lebensreformerischer Ideen habe Bossard eine Art "romantischer Sozialismus" vorgeschwebt, so die Experten am Ende der Diskussion, habe der Künstler die Einheit von Kopf- und Handarbeit propagiert und auf diese Weise wohl auch ein wenig die Arbeitsteilung der Moderne zurückdrehen wollen: Bossard lebte nach dem Modell des Selbstversorgers und zog im Obst-, Gemüse und im Kräutergarten auf dem heimischen Gelände die Produkte für den täglichen Bedarf heran. Heute ruhen er und seine Frau auf dem Gelände.

An der Kunststätte Bossard will man die Aufarbeitung des noch nicht in Gänze gehobenen Kunstschatzes vorantreiben. Gudula Mayr sieht in der Festveranstaltung den "Beginn für eine zunehmende Vernetzung der Kunststätte Bossard auch im Hochschulbereich." Aus eigener intensiver Beschäftigung mit Bossards Schaffensdrang weiß die Kunsthistorikerin, dass der Künstler durch seine Kombinatorik verschiedenster Quellen auch "Hürden für das Verständnis" aufgebaut habe. Derzeit versucht eine Sonderausstellung Einblick und Licht in verschiedene Phasen von Bossards Schaffens zu geben. Deutlich werden Quellen- und Ideengeber durch einen Blick in Bossards Literatur- und Zeitschriftenschrank und auch seine Vielseitigkeit wird durch die Exponate deutlich, die zum Teil noch aus Bossards Studienzeit oder der Zeit als freier Künstler stammen.

Im Jubiläumsjahr hat man beim Bossard wirklich das Gefühl: er liegt in guten Händen - auch der Landkreis Harburg spricht von "Geschenk und Verpflichtung zugleich".

Sonderausstellung bis 8. Mai, Öffnungszeiten dienstags bis sonntags 10 bis 18 Uhr, Bossardweg 95