Eine Brille ist nicht nur eine Brille, ist nicht nur eine Brille. Wer wissen will, wer er ist oder gar wie viele Ichs in ihm schlummern, schaut einfach mal beim Optiker vorbei.

Heute steht dort nicht nur die Sehstärke zur Debatte, sondern das ganze Ich, ein selbst stiftender - ach was! - ein souveräner Selbstfindungsakt. Mein Freund und ich, beide akut kurzsichtig, prüften uns anhand der neuen Frühjahrskollektionen selbst und gegenseitig.

Die Optikerin wollte wohl in Kürze Feierabend machen und hatte anfangs noch ein Motivationsdefizit. Viele der Modelle verliehen einen oberschlauen Sekretärinnenlook. Nach meiner Nörgelei saß plötzlich eine von den Dimensionen im Verhältnis zum Gesicht beeindruckende Nerdbrille auf meiner Nase (ich war quasi nur noch Brille), die mir an jedem Gymnasium modischen Respekt verschafft hätte. Ein Imagewechsel in Sekundenschnelle.

Mein Freund, als Rechtsanwalt etwas formaler aufgelegt, bekam mit einer eckigen Armani im Handumdrehen diese gewisse Aura, mit der er den Artdirektor, oder soll ich besser sagen die Trendavantgarde in jeder Agentur hätte geben können.

In der hell ausgeleuchteten Brillenfiliale starrten sich ein Oberstufennerd und ein Artdirektor aus dicken Brillen upgedatet durch die Frühjahrsmode an. Fasziniert von der Metamorphose, aber mit Entschlossenheitsdefizit, entließen wir die Fachfrau. Bis das Image nachgewachsen ist, tun es die Kontaktlinsen.

Aber wir wissen jetzt: da geht noch einiges - und in drei Wochen kommen ganz viele neue Modelle in die Vitrinen. Das sagt jedenfalls die Verkäuferin, die seltsamerweise eine stinknormale Brille auf der Nase trug. Wahrscheinlich aus der letzten Kollektion.