Die Deutsch-Tunesierin Mouna Bouassida hat schon 80 Brüche hinter sich. Ihre Familie gibt ihr Kraft und Halt

Eißendorf. Bei 55 hat Mouna Bouassida aufgehört zu zählen. Fünfundfünfzigmal waren ihre Knochen gebrochen, da war sie erst zwölf Jahre alt. Oberschenkel brachen, Unterschenkel, Zehen, Arme und Finger. 55 Knochenbrüche - das bedeutete 55 Mal große Schmerzen und großes Leid. Und viel Zeit in Krankenhäusern - gut drei Jahre hat Mouna Bouassida in Krankenhausbetten gelegen.

Heute ist die Deutsch-Tunesierin 25 Jahre alt blickt auf ein Leben mit rund 80 Knochenbrüchen zurück. Mittlerweile kann sie wieder gehen, ganz langsam und vorsichtig auf Krücken und nur in ihrer Wohnung in Eißendorf, in einem Saga-Hochhaus in der Mergellstraße im siebten Stock. Wenn Mouna die Wohnung verlässt, dann immer in einem Elektrorollstuhl und immer angeschnallt, damit sie nicht heraus fällt und neues Leid erlebt - seitdem sie sechs ist, hat sie einen Rollstuhl.

"Jeder Bruch war anders und anders schmerzhaft", sagt Mouna, "Schmerzen habe ich eigentlich fast immer, aber man weiß damit umzugehen. Je mehr ich mich in den Schmerz hineinsteigere, desto größer ist die Angst, dass was passieren kann."

Eine Osteogenesis imperfecta ist der Grund für Mounas Brüche. Ostéon heißt auf Griechisch "Knochen", génesis "Entstehung" und imperfecta auf Latein "unvollkommen". Im Volksmund wird die Osteogenesis imperfecta als Glasknochenkrankheit bezeichnet, da der Knochen ähnlich leicht wie Glas bricht und im Röntgenbild eine glasige Struktur aufweist. Die Osteogenesis imperfecta ist eine seltene Erbkrankheit.

Mouna sagt nicht "Glasknochenkrankheit", sondern "ich habe Glasknochen". Sie ist 1,45 Meter groß, ihr rechtes Bein ist drei Zentimeter kürzer. Im Rücken hat sie eine Skoliose von 38 Grad - eine Seitverbiegung der Wirbelsäule bei gleichzeitiger Verdrehung der Wirbel.

Mit eineinhalb Jahren brach sich Mouna das erste Mal ein Bein, schnell kam der zweite, dann der dritte Bruch und dann die Diagnose der Ärzte: Glasknochen! "Bis ich zweieinhalb war, bin ich ganz normal gelaufen und gesprungen", sagt Mouna. Danach begann eine Kindheit, die von den Wörtern "Achtung!", "Pass auf!" und "Sei vorsichtig!" geprägt war.

Als die Krankheit besonders schlimm war, brach sich Mouna zweimal die Oberschenkel, nachdem sie sich im Bett umgedreht hatte. "Als Kind war ich wie Wackelpudding", sagt Mouna. "Deine Knochen sind wie Schokolade", sagte ein Arzt in Fulda 1994 nach einer zwölfstündigen Operation - seitdem hat Mouna Teleskopnägel in den Oberschenkeln und lange Narben. Ein Jahr später bekam sie Teleskopnägel für die Unterschenkel. Vor der Operation hatte Mouna eine Panikattacke, "weil es so ein Leidensdruck war".

Seit zwei Jahren kann Mouna jetzt mit Krücken gehen. Noch immer stürzt sie ab und zu, rutscht aus. "Danach bleibe ich auch mal einen ganzen Tag im Bett liegen, weil die Angst riesengroß ist, wieder ein gebrochenes Bein zu haben." Unterm Strich sind ihre Knochen aber stabiler geworden, seitdem sie eine junge Frau ist - das ist nicht ungewöhnlich bei jungen Menschen mit Glasknochen. Seit den beiden großen Operationen hat sie sich "nur noch" Fuß, Zehen und Arme gebrochen.

In ihrer Wohnung fühlt Mouna sich "sicher". Dort wohnt sie mit ihrer Mutter Saida, 60, ihrem Vater Salah, 60, und ihren Brüdern Tarek, 29, Ziad, 28, und Bilal, 23, auf 72,5 Quadratmetern in zweieinhalb Zimmern - 716 Euro im Monat verlangt das städtische Wohnungsunternehmen Saga GWG für diese Bleibe; weil das Wasser mit einem Durchlauferhitzer warm wird, kommen 150 Euro hinzu.

Mouna ist die einzige, die ihr eigenes Reich hat: ein knapp zehn Quadratmeter großes Zimmer mit Fernseher und Notebook, das sie nur mit den beiden Wellensittichen Coucou, 3, und Ayshe,1, teilt. Ayshe bedeutet auf Arabisch "Leben".

Und das will Mouna trotz ihrer Behinderung: leben! "Meine Kindheit war mit Weinen und Schreien verbunden - die Erwachsenenzeit ist mit Lachen verbunden." Lachen tut Mouna viel, wenn sie mit ihren Eltern und Freunden zusammen ist.

"Mouna ist nett, lustig und quietschig", sagt der Zivildienstleistende Tim Möller, 21, der Mouna für die Deutsche Muskelschwund-Hilfe zum Studium an der Universität Hamburg fährt - die anfallenden Kosten zahlt das Bezirksamt Harburg.

An der Uni Hamburg, im Fachbereich Sozialökonomie, hat Mouna viel Gutes für Geist und Seele getankt. "Ich freue mich immer, wenn ich mit Tim zur Uni fahre, denn jeder Tag bringt dort was Neues, und irgendetwas Schönes passiert immer. Ich lerne immer neue Menschen kennen und tue etwas für meinen Kopf. Mein Wunsch war es zu studieren und Erfolg zu haben."

Am liebsten würde Mouna nach dem Bachelor anfangen zu arbeiten - am liebsten im Personalwesen, denn "Personal" war ihr Schwerpunkt im Studium, und sie kann gut mit Leuten. Mouna hat Praktika im Personalbereich der Hamburger Stadtentwässerung und in einem Reisebüro absolviert.

"Was Mouna anpackt, das schafft sie", sagt ihr Bruder Tarek, der in einem Getränkemarkt und bei Blume 2000 arbeitet. "Sie hat einen deutschen Pass bekommen, hat den Führerschein und das Fachabitur geschafft, und das Studium wird sie auch wuppen."

Mouna ist nicht die einzige in der Familie, die ihren beiden Eltern viel Geduld abverlangt hat in den letzten Jahren: Auch ihr Bruder Bilal ist behindert. Er kann nicht sprechen und nicht gehen, nur krabbeln. Er schläft mit seinen Eltern im Wohnzimmer - die beiden gesunden Brüder teilen sich ein Zimmer. Bilal kam wie seine Geschwister im Allgemeinen Krankenhaus Harburg zur Welt. Die Hebamme sei um die 60 Jahre alt gewesen, ihre Hände hätten gezittert, sagt Mounas Mutter Saida. "Im Mutterleib war er ganz gesund. Weil er vor der Geburt nach oben wanderte, hat ihn die Hebamme mit einer Saugglocke geholt."

Bilal habe nach der Geburt so ausgesehen, als ob er zwei Köpfe habe. Auch 24 Stunden später war Saidas viertes Kind noch immer ganz blau im Gesicht. Die Ärzten sagten, das sei "normal". Als Bilal acht Monate alt war, stellte eine Hausärztin die Behinderung fest. Mit vier Jahren hat sich Bilal das erste Mal gedreht - heute robbt er zu seinen Brüdern, wenn die von der Arbeit kommen.

Bilal sitzt an diesem Tag auf einer Matratze im Wohnzimmer, im Fernsehen laufen, Zapp an Zapp, Al Jaseera mit Bildern aus Libyen, Al Massira aus Ägypten mit einer Familienserie und 1 Al Watania Tunisia mit Werbung. Bilal hält einen Stapel Karten in der Hand und lächelt, wenn ihm etwas gefällt, was er hört.

"Ich liebe alle meine Kinder gleich", sagt Mutter Saida auf Arabisch, "aber Bilal liebe ich einen Tick mehr." Auf Deutsch fährt sie fort: "Mouna ist unser schemz mnaoura, das heißt auf Arabisch 'Sonnenschein'. Aber unser Bilal kann nicht reden, mein Sohn nix laufen, mein Herz, mein Herz!" Saida kommen die Tränen.

Viermal am Tag windelt Saida ihren schwerstbehinderten Sohn. "Die Windeln von der AOK sind zu dünn, da werden Wäsche und Bett oft feucht." Morgens stemmen Saida und ihr Mann Salah den mehr als 90 Kilo schweren Bilal aus dem Bett - abends geht es von der Matratze wieder aufs Bett, die Brüder Ziad und Tarek übernehmen diese Aufgabe. Zweimal in der Woche hieven sie Bilal auf einen Sitz über der Badewanne, Saida wäscht ihren Sohn. Das Bad ist 2,3 mal 1,5 Meter groß - ein Rollstuhl passt nicht herein.

"Mutter ist unsere Säule", sagt Mouna, "sie trägt uns auf den Händen. Sie würde uns niemals weggeben, solange sie lebt - auch auf Krücken würde sie uns noch pflegen. Mutter hat uns geboren und liebt uns über alles. Sie würde uns niemals in ein Heim geben. Mutter ist eine reine Seele."

Saida und Salah sind Cousine und Cousin. Ihre Eltern haben sie im tunesischen Ksebit-Sousse einander versprochen. Der Dreher Salah war 1973 arbeitslos in Tunesien. VW suchte über sein Arbeitsamt nach Arbeitskräften. So kam er nach Wolfsburg und später ins Aluwerk nach Altenwerder. Seit 1989 ist er Frührentner - er hat Morbus Bechterew: seine Wirbelsäule und Hüfte sind versteift, er geht krumm und schief am Stock.

Mouna und ihre Eltern sind gläubige Moslems. Sie beten fünfmal am Tag und noch zusätzlich im Morgengrauen. Wenn Mouna wegen der Uni nicht zum Beten kommen, holt sie es zu Hause nach. Salah geht freitags nach Harburg in die Moschee.

Sonnabends pflegen Saida und Salah Mouna und Bilal mit deren Rollstühlen spazieren zu fahren. Dann geht es nach Harburg ins Phoenix Center oder zu Saturn in die Hamburger Innenstadt, es sei denn, der Fahrstuhl am Bahnhof Harburg-Rathaus ist mal wieder kaputt.

Ihre Bachelorarbeit hat Mouna gerade abgegeben. Thema: "Burnout im Berufsleben: die neue Volkskrankheit." Mouna hat die Arbeit in Leinen binden lassen. Jetzt will sie sich erst einmal ein wenig von dem anstrengenden Thema erholen - "ganz sutsche piano".