Die deutsche Umgangssprache hat gut vorstellbare Wortbilder. Dazu gehört zum Beispiel der oft verwendete Ausspruch: “Du hast wohl einen kleinen Mann im Ohr.“

Wir können uns gut vorstellen, wie der kleine Kerl mit angezogenen Knien im Ohr hockt. Dort flüstert er grinsend oder schadenfroh kichernd dem großen Mann seltsame Einfälle ins Ohr. Meistens solche, die den großen Mann bei seinen Mitmenschen als verrückten Außenseiter oder als Narren mit unvernünftigen Ansichten erscheinen lassen.

Woher dieser Begriff wohl kommt? Warum hat noch niemand eine kleine Frau im Ohr gehabt? Eine Frage aus rein umgangssprachlicher Sicht. Für die Einflüsterungen von Frauen haben doch zumindest wir Männer bereitwilliger ein offenes Ohr. Vielleicht traut man einer kleinen Frau im Ohr keinen unüberlegten und unvernünftigen Blödsinn zu. Auch diese Vermutung wird aus rein umgangssprachlicher Sicht geäußert.

Wie ich auf dieses Thema komme? Bei bestimmten Gesprächsthemen und Anlässen fühle ich mich unsicher. Ich habe den Eindruck, dass mir in letzter Zeit jemand ungezogene Bemerkungen und Antworten ins Ohr flüstert, die nicht unüberlegt ausgesprochen werden sollten.

Es ist anstrengend geworden, respektlose Äußerungen rechtzeitig zu unterdrücken. Ich muss auf der Hut sein, damit ich nichts Anrüchiges einfach nachplappere. Alle Symptome weisen darauf hin, dass ich einen kleinen Mann im Ohr habe. Der Ohrenarzt konnte zwar nichts feststellen. Aber wer weiß, wo der kleine Störenfried sich während der Untersuchung versteckt hat. Hinterm Brillenbügel oder im Pulloverkragen womöglich.