Provokante Studie des Pestel-Instituts sieht zu viele Schwerpunkte im Bereich Ökonomie gesetzt

Winsen/Hannover. Der Landkreis Harburg ist laut einer wissenschaftlichen Studie in puncto Krisensicherheit nur Mittelmaß in Deutschland. Das Eduard Pestel Institut für Systemforschung Hannover sieht in seiner bundesweiten Untersuchung zur Krisenfestigkeit von Regionen den Landkreis Harburg nur auf Rang 217 von insgesamt 412 Kreisen und kreisfreien Städten. Eine Bastion gegen mögliche Gefahren in der Zukunft sei dagegen der Nachbarlandkreis Lüneburg: Platz drei in der Rangliste der krisensichersten Regionen Deutschlands.

Nirgendwo in Niedersachsen ist die Bevölkerung einkommensstärker als im Landkreis Harburg. Der Tourismusmarkt wächst. Drei Autobahnen sorgen für ein dichtes und schnelles Transportnetz.

Die mittelständisch geprägte Wirtschaft minimiert das Risiko der Abhängigkeit von wenigen Großkonzernen. Und dennoch bewertet das Pestel-Institut die Region nur als bedingt krisensicher. Den Grund erklärt Matthias Günther, Mitautor der Studie: "Rein ökonomische Kriterien reichen zur Bewertung der Krisenfestigkeit einer Region nicht aus." Internationale Wettbewerbsfähigkeit allein garantiere nicht Sicherheit für die Zukunft, sagt Matthias Günther: "Wir sollten die Fixierung auf Wachstum und Konsum aufgeben." Andere, bisher vernachlässigte Faktoren böten Schutz vor den Auswirkungen von Krisen, etwa wenn Rohstoffe knapp werden oder der Klimawandel Ernten zerstört und die Ernährung der Bevölkerung bedroht.

Nur bei fünf Kriterien liegt der Landkreis im Spitzenbereich

Krisensicher seien demnach zum Beispiel Regionen, die über einen hohen Anteil an landwirtschaftlichen Flächen und eigener Energieversorgung mit Biogas, Wind- und Wasserkraft verfügen.

Insgesamt 18 Kriterien aus den Bereichen Soziales, Wohnen, Verkehr, Flächennutzung, Energie und Wirtschaft hat das Pestel-Institut in seiner Studie untersucht. Darunter sind nur drei klassisch-ökonomische Prüfkriterien, das unterscheidet die Pestel-Studie von den Standortuntersuchungen anderer Wirtschaftsinstitute.

Bei lediglich fünf Kriterien liegt der Landkreis Harburg im Spitzenbereich, siebenmal erreicht er einen Mittelplatz und sechsmal steht der einkommensstärkste Landkreis Niedersachsens am Ende der Rangliste. Mittelmaß, so das Urteil des Pestel-Instituts.

An der Spitze steht der Landkreis Harburg laut der Untersuchung wegen der geringen Anzahl von Sozialhilfeempfängern, das sei ein Indiz für die Fähigkeit der Region, alle Bevölkerungsgruppen sozial und wirtschaftlich gut zu integrieren. Die hohe Zuwanderung in den Landkreis sei ebenfalls eher ein Indiz für eine "starke Region". Schutz verspreche die geringe Anzahl von Beschäftigten in der Industrie. Der Landkreis Harburg sei damit weniger stark von Exportkrisen betroffen. Top sei der Landkreis weiter, weil die Schulden der Einwohner und Gemeinden gering seien.

Zu wenig ÖPNV und zu viele Autos

Mittelmaß sei der Landkreis Harburg bei den Schulabgängern ohne Abschluss, bei der Individualverkehrquote, bei der Landwirtschaftsquote je Einwohner, dem Anteil an Ökolandbau und der Waldfläche je Einwohner.

Dringend verbessern müsse der Landkreis laut der Studie die Versorgung der Bevölkerung mit Hausärzten. Der Anteil von Mieterhaushalten sei zu gering. Zu viel Wohneigentum, so die Logik der Studie, gehe mit hohen Schulden einher, mit den ökonomischen Auswirkungen von Krisen steige damit das Armutsrisiko.

Die Wohnfläche je Einwohner sei zu groß, ein Indiz für zu hohen Energieverbrauch, also ein Nachteil bei Krisen. Weiter sei das ÖPNV-Angebot schwach und die Abhängigkeit von dem eigenen Pkw zu hoch. Anfällig für Krisen sei der Landkreis Harburg ferner, weil zu wenige Beschäftigte ihren Arbeitsplatz am Wohnort haben.

Die Autoren der Studie wissen, dass sie provozieren. Die Risikoanalyse des Pestel-Instituts führt zu dem Phänomen, dass die Regionen an der deutsch-polnischen Grenze als besonders krisensicher gelten. Das sei logisch, sagt Matthias Günther. Der Anteil an Landwirtschaft, Ökolandbau, Biogas und Windenergie sei dort extrem hoch, die Region also autark.

Auch die ärztliche Versorgung sei dort zurzeit noch besser. Im Vorwort der Studie heißt es: "Jeder einzelner Indikator und seine Bewertung sind diskussionswürdig." Diese Diskussion möchte das Pestel-Institut führen und mit den neuen Erkenntnissen eine neue Bewertung der Regionen vornehmen. Die Zukunftsfähigkeit aller 412 Kreise und kreisfreien Städte hat auch die Prognos AG im vergangenen Jahr untersucht. Hier schneidet der Landkreis Harburg besser ab: "Zukunftschancen", lautet das abschließende Urteil des Wirtschaftsinstituts. Das bedeutet: gehobenes Mittelmaß in ihrem "Zukunftsatlas 2010".

Den Landkreis Lüneburg stuft Prognos dagegen eine Kategorie schlechter ein: Chancen und Risiken hielten sich demnach dort die Waage - tiefstes Mittelmaß also nach den Maßstäben der Prognos.