Herbert Wodniczak, 76, ist seit 61 Jahren mit Nadel, Faden und Schere im Einsatz

Wilhelmsburg. Was für ein Laden! Schauen Sie herein und Sie werden sich zurückversetzt fühlen in alte Zeiten gediegener Handwerksarbeit. In seinem kleinen Verkaufsraum an der Veringstraße 53 begrüßt uns der Wilhelmsburger Schneidermeister Herbert Wodniczak, 76. Hinter ihm stapeln sich in Regalen 500 Stoffballen. Darauf stehen dicht an dicht 100 alte Bügeleisen. Auf dem Ladentisch liegt eine mächtige Schneiderschere.

Herr Wodniczak ist der Inbegriff von einem Schneider. Um eine zwanglose Plauderei ist er nicht verlegen - ein charmanter Herr, der Professionalität und Können ausstrahlt. Ein Mann mit Hingabe für seinen Beruf und einer heute eher seltenen Zuvorkommenheit.

Bei Herrn Wodniczak bekommt der Herr oder die Dame Hosen gekürzt, aber auch einen neuen Anzug oder ein Kostüm geschneidert - "und das immer tadellos", hat ein Kunde notiert. Und weiter:"Hier wird man hervorragend beraten und bekommt freundlich Auskünfte über sein Anliegen. Herr Wodniczak und seine Mitarbeiterin arbeiten sehr, sehr sauber und genau. Man kann auch verschiedene Nähutensilien kaufen bei einem erschwinglichen Preis. Nebenher verkauft der Laden auch Gardinen, Tischdecken und Spitzendeckchen."

Wie kommt es dazu, dass sich ein 76-Jähriger immer noch sechsmal in der Woche in seine Schneiderwerkstatt aufmacht, Hosen kürzt und Anzüge, Hosen, Kostüme und Westen nach Maß fertigt? Was treibt ihn an?

Pünktlich um 7.30 Uhr betritt Herr Wodniczak seinen Laden, um 8 Uhr öffnet er das Geschäft, um 18 Uhr ist Feierabend, am Sonnabend um 13 Uhr. "Ich wollte den Laden mit 65 Jahren schon abgeben, aber ich finde keinen vernünftigen Nachfolger", sagt Herr Wodniczak. "Die Kunden kommen gerne zu mir und sagen, 'wenn Sie nicht mehr da sind, wo sollen wir dann hin?'."

Ein paar halb fertige Arbeiten hängen in der Werkstatt: eine Schottenweste für einen jungen Mann, eine Stiefelhose für eine Frau, ein weißer Anzug für einen Fischer aus dem Hafen und ein Stresemannanzug für einen Doktor aus Stade - Herr Wodniczak sagt "Köt" dazu, frei nach dem englischen Cut, "aber ich bin ja nicht im Englischen groß geworden."

Herr Wodniczak ist Wilhelmsburger durch und durch, hat die Elbinsel nur einmal für kurze Zeit verlassen, als er mit seiner Frau Rita, 70, in der Marienstraße in Harburg lebte. Sein Vater Franz kam als Schneidergeselle während der Wanderschaft aus dem schlesischen Breslau nach Wilhelmsburg. Herbert Wodniczak erblickte in der Veringstraße 43 das Licht der Welt - nur ein paar Schritte von seinem Laden entfernt. "Im Erdgeschoss war auch eine Schneiderei. Da hat Vater gearbeitet", sagt Herr Wodniczak in seinem Anproberaum. "Als ich Kind war, gab es 27 Schneidermeister im Reiherstiegviertel."

Heute ist Herr Wodniczak der letzte Schneidermeister auf der Elbinsel. Seine Mitbewerber sind meist türkische Schneider, die Hosen schon für fünf Euro kürzen. Herr Wodniczak nimmt acht Euro dafür. Maßanzüge sind deutlich teurer: "ab 1200 Euro", sagt der Schneidermeister, "reines Kaschmir ist natürlich noch teurer."

Der kleine Herbert ging von 1940 bis 1949 auf die katholische Volks- und Realschule in der Bonifatiusstaße. "Wenn es im Krieg Bombenalarm gab, ist Mutter mit uns vier Kindern in den Bunker in der Neuenfelder Straße geflüchtet." Vater Franz war während des Krieges im Sicherheitsdienst tätig und reparierte in der Schneiderwerkstatt Uniformen.

Eines Tages fragte der Klassenlehrer, "was wollt ihr werden?", und Herbert sagte "Schneider". Ihm gefiel, dass sein Vater nach dem Krieg gutes Essen nach Hause brachte. "Vater schneiderte für Franzosen, die mit ihren Lastkähnen im Hafen lagen, Pelzjacken und Mäntel. Die Franzosen bekamen von den Engländern Proviant. Für Vaters Jacken brachten sie dann dickes Weißbrot, Butter und Wurst in einem Koffer in die Schneiderei."

Gelernt hat Herr Wodniczak von 1949 bis 1952 beim Schneider Arthur Heinrich in Harburg. "Ich habe noch im Schneidersitz auf dem Schneidertisch genäht", sagt Herr Wodniczak - den Schneidersitz hat er immer noch drauf, heute arbeitet er aber im Sitzen "auf dem Tisch".

In seinem Anproberaum, auch er ist gefüllt mit alten Bügeleisen und alten Stecknadeldosen, hängt ein Ölgemälde von C. Meiring an der Wand. Es zeigt einen alten Schneidermeister mit Bügeleisen und einem Maßband um den Hals. Auf seinem Tisch liegt ein Frack mit einem Loch, "und er überlegt, wie er es reparieren soll. Mich beruhigt es, wenn ich das Bild betrachte. Mein Obermeister in Harburg sah auch so aus wie der Meister auf dem Bild - er hatte immer so ein Lächeln im Gesicht".

Es gebe noch immer eine gewisse Stammkundschaft in Wilhelmsburg, sagt der Schneider, "aber die meisten Wilhelmsburger, die Geld haben, wohnen jetzt außerhalb, kommen aber immer noch zu ihrem Schneider."

So wie Helmuth Volkmar, 74, Geschäftsführer einer Speditionsgesellschaft im Reiherstiegviertel. Er wohnt in Sieversen im Landkreis Harburg. Heute kommt er vorbei, um fünf Hosen abzuholen. Der Schneidermeister hat sie enger gemacht - Herr Volkmar hat in der letzten Zeit 16 Kilogramm abgenommen, zahlt 250 Euro für seine schmaleren Hosen und sagt: "Wir sind froh, dass wir in Wilhelmsburg noch so einen tollen Schneider haben."

Ohne einen Toto-Gewinn wäre Herr Wodniczak wohl gar nicht Schneider geworden. Sein Vorgänger, der Schneider Johann Schrader, kam mit abgefrorenen Fingern aus russischer Gefangenschaft zurück. Herbert Wodniczak übernahm für ihn die Feinarbeiten wie das Nähen von Knopflöchern. Dann gewann Herr Schrader im Toto und suchte einen Nachfolger: Herbert Wodniczak, der sich verpflichtete, noch seinen Meister zu machen - in diesem Jahr hat er den goldenen Meisterbrief bekommen.

Zehn Lehrlinge hat Herr Wodniczak ausgebildet, drei waren Landessieger. Noch immer nimmt er Prüfungen vor der Handwerkskammer ab und nimmt auch noch Spezialaufträge entgegen. Für die Internationale Bauausstellung hat er die Verhüllung für die großen Info-Stelen genäht und für das Bürgerhaus Wilhelmsburg den 60 Meter langen Vorhang restauriert.

"Wichtig ist, dass man morgens nicht mit Unlust zur Arbeit geht", sagt Herr Wodniczak. "Wenn ich aufhöre, dann würde ich morgens vielleicht länger liegen bleiben. Das ist nicht meine Art." Zum Abschied gibt der tapfere Schneider von Wilhelmsburg dem Reporter noch einen Vers aus seiner Schulzeit mit auf den Weg: "Nicht das Herz nach seinem Wunsche, nach der Pflicht ruft das Gewissen."