Rundschau-Interview mit dem Geschäftsführer des Landesflüchtlingsrates zum Fall Slawik C.

Harburg. Am 28. Juni wurde Slawik C. im Kreishaus in Winsen festgenommen und in Abschiebehaft nach Hannover-Langenhagen gebracht. Dort erhängte sich der 58 Jahre alte Mann, der seit fast elf Jahren mit Ehefrau und Sohn in Jesteburg lebte, am 2. Juli. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen erhob schwere Vorwürfe gegen die Ausländerbehörde des Landkreises. Sie habe sich, um den Mann abschieben und seine Akte endlich abschließen zu können, rechtswidrig Passersatzpapiere (PEP) besorgt. Vor diesem Hintergrund fragte die Rundschau den Geschäftsführer des Flüchtlingsrates zur Abschiebepraxis in Niedersachsen.

Harburger Rundschau:

Ist diese Vorgehensweise in Niedersachsen ein Einzelfall?

Kai Weber:

Es ist eher die Regel, dass Ausländerbehörden versuchen, Flüchtlinge ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche Herkunft in irgendein Land abzuschieben, das zu ihrer Aufnahme bereit ist. Im konkreten Fall besteht aber darüber hinaus der Verdacht, dass die Behörden der armenischen Botschaft die Papiere eines anderen Armeniers als angeblichen "Identitätsnachweis" untergeschoben und so rechtsmissbräuchlich die Ausstellung eines PEP erschlichen haben.

Bei seiner Einreise nach Deutschland im Jahr 1999 hatte Slawik C. angegeben, Aserbaidschaner armenischer Volkszugehörigkeit zu sein. Aserbaidschan wollte keine Papiere für Slawik C. ausstellen Welches Interesse hat Aserbaidschan, Flüchtlingen keine Papiere auszustellen?

Die Republik Aserbaidschan hat nach der Erfahrung aller Flüchtlingsräte bislang noch niemals einem aserbaidschanischen Staatsangehörigen amtlich armenischer Volkszugehörigkeit einen Ausweis im Ausland ausgestellt oder auch nur eine Einreiseerlaubnis in Form eines PEP erteilt. Bekannt geworden sind auch Fälle amtlicher "Register-Säuberungen", in deren Rahmen armenische Volkszugehörige von Amts wegen abgemeldet wurden. Dahinter verbirgt sich das Interesse des aserbaidschanischen Staates, den unerwünschten Minderheitenangehörigen eine Rückkehr nach Aserbaidschan möglichst zu verbauen. Insofern liegt die Ausländerbehörde in Winsen falsch: Aus der Weigerung, Slawik C. ein Passpapier auszustellen, lässt sich nicht ableiten, dass die Familie nicht aus Aserbaidschan stamme.

Was besagt das Rücküberführungsabkommen zwischen Deutschland und Armenien?

Danach dürfen Flüchtlinge aus Deutschland nach Armenien abgeschoben werden, deren armenische Staatsangehörigkeit nachgewiesen oder glaubhaft gemacht ist. An die Glaubhaftmachung werden keine großen Anforderungen gestellt, es reichen schon Kopien von Wehrpässen, Zeugenaussagen oder Feststellungen obskurer Delegationen, die einen Flüchtling nach Inaugenscheinnahme zum Armenier erklären. Ist eine armenische Staatsangehörigkeit auf diese Weise glaubhaft gemacht, stellt die armenische Botschaft auf die von dem Flüchtling angegebenen Personaldaten ein armenisches Passersatzpapier aus, mit dem die Abschiebung dann durchgeführt wird.

Welches Interesse hat Armenien daran, Flüchtlingen, die nicht anerkannt wurden, PEP auszustellen, auch wenn nicht erwiesen ist, dass es sich tatsächlich um armenische Staatsbürger handelt?

Das Interesse dürfte eher bei den deutschen Behörden liegen, die unliebsame Flüchtlinge gern abschieben wollen. Viele Jahre hat sich der armenische Staat geweigert, diese Menschen aufzunehmen. Armenien ist ein armes Land, es hat vor allem ein Interesse an wirtschaftlicher Unterstützung durch Deutschland, das nach den USA der zweitwichtigste bilaterale Geber für Armenien ist. Ist es ein Zufall, dass die Bundesrepublik für die Jahre 2009 bis 2010 weitere bis zu 105,5 Mio. Euro für die bilaterale finanzielle Zusammenarbeit zugesagt hat? Ich denke, es gibt da Zusammenhänge, auch wenn diese ausdrücklich nirgendwo benannt sind.

Was verbirgt sich hinter dem Ausdruck "Identifizierer" und welche Rolle spielen diese "Identifizierer" bei der Beschaffung von Passersatzpapieren für Flüchtlinge, die abgeschoben werden sollen?

Als "Identifizierer" werden Mitglieder von Delegationen bezeichnet, die vom armenischen Innenministerium mit dem Auftrag nach Deutschland entsandt werden, Flüchtlinge als armenische Staatsbürger zu "identifizieren". Die "Identifizierer" besitzen keine besonderen Kenntnisse oder Qualifikationen für die Identifizierung Sie versuchen sich - mittels äußerlicher Kriterien wie z.B. Sprache, Gesichtsform, Name - einen laienhaften Eindruck darüber zu verschaffen, ob ein Flüchtling aus Armenien stammen könnte. Im Ergebnis werden auch Flüchtlinge zu armenischen Staatsbürgern erklärt und anschließend abgeschoben, die niemals in Armenien gelebt haben. Traumatisch ist dies insbesondere für solche Flüchtlinge, die - wie Familie C. - zehn und mehr Jahre in Deutschland gelebt haben und hier integriert sind.

Werden diese "Identifizierer" für ihre Arbeit bezahlt und von wem werden sie gegebenenfalls bezahlt?

Die Arbeit wird über Tagegelder und "Aufwandsentschädigungen" - für armenische Verhältnisse - gut bezahlt und sehr begehrt. Diese Kosten trägt der deutsche Steuerzahler. Natürlich wissen die Delegationsmitglieder, was von ihnen erwartet wird: Das lukrative Geschäft käme wohl schnell zum Erliegen, würden die Mitglieder nicht einen Großteil der Vorgeführten aufs Geratewohl als Staatsangehörige der Republik Armenien "identifizieren".

Wurde nach Ihrem Kenntnisstand Slawik C. einem "Identifizierer" vorgestellt?

Nein. Bei Slawik C. reichte als Beleg für die Glaubhaftmachung einer armenischen Staatsangehörigkeit offenbar ein Identitätsnachweis von Interpol für einen namensgleichen, sich hinsichtlich Herkunft und Abstammung ansonsten aber deutlich unterscheidenden Armenier.