Das Lebenswerk von Johann Michael Bossard wird in der Kunststätte in Jesteburg dokumentiert

Jesteburg. Der Himmel über dem drei Hektar großen Heidegrundstück wechselt die Farben, so als wollte er das Gesamtkunstwerk des Künstlers Johann Michael Bossard und seiner Frau Jutta Bossard erst richtig inszenieren. In den Tannenspitzen spielt ein Lüftchen, graue Wolken schieben über den Himmel, dann wieder blitzt die Sonne auf und entflammt die expressionistischen Fenster des Kunsttempels in schillernden Farben.

Auf dem Waldgrundstück in Lüllau bei Jesteburg, das Bossard 1911 kaufte, riecht es nach Kräutern und Fichtennadeln, durch den Besuch bei einem Mäzen in der Heide entdeckte der Künstler es. 1912 machte Bossard sich an den Bau des Backsteinwohnhauses, später folgte der Kunsttempel. Magdalena Schulz, Kunsthistorikerin und seit drei Jahren als Museumsassistenz am Bossard, gibt eine Führung.

Wir starten mit den Wohnräumen des Künstlers, die einen ungemeinen Gestaltungswillen erkennen lassen. Wände, Teppiche, Geschirr, Mobiliar und sogar Fenster, alles wurde kurzerhand zum Kunstwerk. Ein wenig wirkt der überbordende Bildkosmos, als hätte Bossard Angst vor der freien Fläche gehabt, noch die kleinste Wandscherbe ist bemalt. Märchenzimmer, Gelbes Zimmer, Eros-Saal, Urgebraus und Edda-Saal: die komplett gestalteten Räume, durch deren bemalte Fenster sich nur schummrig Licht bricht, ergeben eine umrätselte Ahnung, welcher Vision Bossard nachgehangen haben mag.

"Es ist schwer, bei Bossard direkte Vorbilder zu finden", sagt Schulz. Der Künstler, der seit 1907 eine Professur für Plastik an der Kunstgewerbeschule in Hamburg inne hatte, habe Stile sehr stark vermengt und diesem Eklektizismus immer seinen eigenen Stempel aufgedrückt. Jugendstil, expressionistische Elemente und Symbolismus treffen auf Bossards Handschrift. Fest steht: Bossards Gesamtkunstwerk sollte Modellcharakter haben, Menschen zur Nachahmung inspirieren. Bossard hegte, Kind seiner Zeit und inspiriert von lebensreformerischen Ideen, eine Utopie vom "neuen Menschen" und der "besseren Welt". Die Kunst sollte der Weg zur Erleuchtung sein.

Bossard, der durch eine Scharlacherkrankung mit elf Jahren auf einem Auge erblindet war, ging dieser Vision mit einem exzessiven Hang zur Optik nach. Der einäugige Götterkönig Odin aus der altnordischen Mythologie soll es ihm angetan haben, vermutlich weil er sich mit ihm identifizieren konnte. Szenen und Motive, die sich auf den Wänden zu einer Art Privatmythologie und Schöpfungsgeschichte in dem "farblichen Urgebraus" rot, blau und gelb verflechten, lassen sich nur in Teilen aufdröseln. Aus Mythen, Sagen und Bausteinen der Weltregionen baute Bossard sich als Heide-Eremit seine eigene Weltbühne: "Wir haben eine umfangreiche Bibliothek von 2500 Büchern gefunden mit Werken aus Theosophie, Anthroposophie, Philosophie und Kunst." Bossards Wände scheinen zu sprechen: eine Kosmogonie rund um Motive wie Nietzsches "Übermensch", "Werden und Vergehen" und andere Gegensatzpaare, positive und negative Kräfte wendet sich an den Besucher. Im Musikzimmer steht ein über und über bemalter Flügel. Hier hat Bossard, der Ofensetzer war und später in Berlin und München Kunsthandwerk studierte, ein paar Ideengeber an die Holzvertäfelung gebracht: Heraklit, Dante, Goethe, Nietzsche und natürlich Schopenhauer. Hing Bossard einer Religion an? "Es taucht immer wieder die Figur des Weltenschöpfers auf, doch war Bossard überkonfessionell." Er glaubte nur, dass der Mensch ein Sinnzentrum brauche.

Über eine steile Treppe gelangen wir ins Obergeschoss. Im blauen Flur leuchten utopische Architekturentwürfe von der Wand, einiges ist sogar wiederzuerkennen. "Das soll wohl die Außenalster sein", sagt Schulz, die eine Doktorarbeit über das Gesamtkunstwerk verfasst. Obwohl man es sich angesichts der hohen Künstlichkeit dieser expressiven Wohn-Kunstumgebung schwerlich vorstellen kann, fassten Johann und Jutta Bossard ihre Kunst als "Gebrauchskunst" auf.

Schulz hält eine Anekdote parat: Jutta Bossard, die nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1950 im Wohnhaus lebte und das Gesamtkunstwerk pflegte, habe das sorgsam bemalte Geschirr robust behandelt. Dem Kunsthistoriker Oliver Fok, der wusste, dass das hier mal ein Museum werden würde, habe es immer gegraut, wenn die Künstlerin mit der Gabel auf dem guten Geschirr herumharkte und es ins Spülbecken warf.

Wir betreten den Erossaal, ein imposanter, sakral anmutender Raum überwiegend in Rottönen gehalten, in dem Bossard in den letzten Lebensjahren malte. Bossard glaubte an einen "universalen Eros", dahinter der schöne Gedanke, dass einem jeden ein vom Liebesgott Eros zugedachter Partner vorbestimmt ist. An der Wand gegenüber sind düstere Gestalten zu sehen, die dieser Liebe entgegenstehen, die Neider. Doch wie stand es um die Liebe der in Buxtehude geborenen Jutta Krull (1903-1996), Schülerin von Bossard und dem Künstler (1874-1950) selbst? Magdalena Schulz glaubt eher an eine pragmatische junge Frau. Eigentlich wollte sie sich nur von ihren Lehrer verabschieden und dann auf nach Paris. Bossard lud sie kurzerhand zum Wochenende in die Heide ein. Die junge Frau besorgte sich eine Zahnbürste und beim Spaziergang soll Bossard sie dann gefragt haben, ob sie statt nach Paris zu gehen nicht lieber seine Frau werden wolle. Andererseits hielt Schulz mal ein Tagebuch in Händen, in der Krull ganz liebevoll über ihren Mann schrieb, sie sei wie eine Motte in das Licht geflogen. Es wurde eine Allianz fürs Leben.

Bossard setzte auf dem Gelände ein einzigartiges Zusammenspiel von landschaftlichen Elementen (es gibt einen Baumtempel), plastischer Kunst und Malerei um. Wir kreuzen eine imposante Skulpturenreihe im Künstlergarten und treten in den Kunststempel mit Mosaikboden ein. Drei Tempelzyklen gibt es, die im Wechsel gehängt werden. "Ein Wechsel von rund zehn Jahren", sagt Schulz und grinst. Es war schlicht nicht genug Platz für die Präsentation zur gleichen Zeit. Wie steht Bossard zum Nationalsozialismus? Der totale Gestaltungswille habe zwar schon eine Nähe zu totalitären Ideen, räumt Schulz ein und Bossard sei wohl kurzfristig auch von der aufkeimenden Aufbruchsstimmung begeistert gewesen. Doch habe er die mörderische Logik schnell durchschaut.

Johann und Jutta Bossard gingen mit Haut und Haaren in ihrer Kunstreligion auf, ihre letzte Ruhe fanden sie auf dem Gelände. Auf dem Stein am Ende einer Monolithengalerie ein Kreis als Symbol der Ewigkeit.

Seit 2009 ist der Bossard selbstständig unter der Leitung von Dr. Gudula Mayr. Führungen durch das Wohnhaus mit Anmeldung unter 04183 / 5112 (12 Euro). Auch zu besichtigen: "Von Renoir bis Moore. Kleinplastiken aus der Nationalgalerie Berlin an der Kunststätte Bossard."