Hans-Jürgen Neuring zeigt seinen Schüler den Weg durch sein musikalisches Werk

Neugraben. Wie wollte Maurice Ravel seinen Bolero hören? Wie spielte Bach seine Toccaten? Wie beseelt trug Mozart die Linien der Romanze seiner Kleinen Nachtmusik vor? Sicher ist nur, dass wir es nicht wissen. Sicher ist auch, dass wir die Werke heute anders hören, als die Komponisten selbst sie gespielt hätten. Denn: Dirigenten und Interpreten formen die Werke nach ihren eigenen Vorstellungen, Instrumente haben sich im Laufe der Zeit gewandelt und die Komponisten selbst nahmen ihre Stücke selten als fixiert hin, sondern ließen sie reifen. Umso spannender ist der Unterricht bei einem zeitgenössischen Komponisten.

In Neugraben geben sich Klavierspieler dafür die Klinke in die Hand. Hier empfängt der Komponist Hans-Jürgen Neuring und weist seinen Schülern den Weg durch seine Kompositionen. Mehr noch - er erzählt ihnen die Geschichten, die hinter seinen musikalischen Gedanken stecken. Stetig fahren Autos und Fahrrädern im Kiepenkerlsweg vor - kleine Klavierschüler drücken genauso auf das Klingelschild "Komponist" wie Erwachsene. Selbst aus Korea sind schon Interpreten von Neurings Werken angereist, um ein Gefühl für Komponist und Werk zu bekommen.

Das Gespür für seine Musik bei seinen Gästen zu wecken, geling ihm mühelos: Neurings Kompositionen sind im Wesentlichen vierhändig ausgelegt, der stilistische Schwerpunkt liegt in der populären Musik und kommt so den Hörerfahrungen und Vorlieben seiner Schüler sehr entgegen. Zu zweit an der Klaviatur sind die Interpreten eng aufeinander angewiesen und Neurings Schüler bekommen bereits nach den ersten Takten mit, wohin die musikalische Reise geht. Da singt Neuring schon mal die Stimme seines Klavierpartners mit, damit der in der Spur bleibt und zieht das Tempo bis zum Limit der Spielkunst seiner Schüler an. Er schnalzt, schnarrt und zischt den Beat oder bremst Ausbrüche am Klavier, wenn eigentlich weiche Klänge angesagt sind.

Sicher ist - wer aus Neurings Tür geht, hatte keine Langeweile und hat im Ohr, wie er seine Stücke hören will. "Wie es meinen Kompositionen ergehen kann, wenn sie in Konzerten ohne mein Training aufgeführt werden, erstaunt mich hin und wieder", sagt Neuring. Spricht er dann mit den Interpreten darüber, wie das Stück ursprünglich gemeint war, nimmt er Antworten wie: "Sind Sie denn so engstirnig?" gelassen hin und beantwortet sie seinerseits mit einem klaren "Nein".

Neuring: "Kompositionen in die Welt zu setzen verlangt - genau wie bei Kindern - ein Loslassen. Jedes gespielte Musikstück wird von seiner Umwelt geformt: Von unterschiedlichen Wahrnehmungen, Gefühlswelten, Lebenserfahrungen und -situationen der Spielenden. Werke von Malern und Schriftstellern machen, einmal vollendet, keine Wandlungen mehr durch. Dagegen erfahren Kompositionen immer wieder komplexe Verarbeitungen - selten durch den Urheber selbst - bevor sie einem Publikum präsentiert werden."

Einen Kampf gegen die Vielfalt der Interpretationen zu führen wäre vollkommen unsinnig, zumal der umtriebige Komponist auch gar keine Zeit dazu hätte. Neben Klavierwerken (erschienen im Heinrichshofens Verlag/Noetzel Edition und im Sikorski Verlag) komponiert der Neugrabener Musicals, unterrichtet eine Vielzahl von Klavierspielern, gibt Fortbildungen für Musiklehrer und engagiert sich in Klaviergroßgruppenprojekten an Schulen.

Wer mehr wissen will über Hans-Jürgen Neuring und sein Tun, der drücke einfach aufs Klingelschild "Komponist".