In Harburg und dem Landkreis blüht nur eine karge Literatur-Szene. Aber es gibt gute neue Ansätze

Harburg. Gibt man bei Google "Harburg literarisch" ein, fragt die Suchmaschine keck zurück: "Meinten Sie Hamburg literarisch?" Wahrscheinlich spiegelt das ziemlich gut Harburgs Dilemma wieder. Oder wie Heinz Strunk, der einzige, der immerhin dem Landkreis Harburg mal nachhaltig ein literarisches Denkmal setzte, es formulierte: "Harburg liegt am falschen, dem südlichen Ufer der Elbe. Das schöne, große eigentliche Hamburg liegt auf der anderen Seite." Hat Harburg also zwischen Lüneburger Straße und Binnenhafen, zwischen Schwarzenberg und Kiekeberg eine literarische Szene? Zumindest keine, die einem penetrant in die Augen spränge.

Im Landkreis Stade dagegen zwischen Moor und Meer, Elbe und Oste gibt es viele schreibende Kriminalisten. Sie sind hauptberuflich Bio-Bauer (Thomas Morgenstern), Rechtsanwalt (Wilfried Eggers), Psychologe (Anke Cibach), Reiseverkehrskauffrau (Cäcilia Balandat), Denkmalpfleger (Dietrich Alsdorf) oder Stern-Autor (Wolfgang Röhl). Sie lassen in ihren Werken klamme Nebel aufsteigen und Morde im Schatten der Marsch geschehen. Der kleine Regionalverlag MCE aus Drochtersen reibt sich ob des Geschäfts mit den Krimis die Hände und das Tourismusbüro vermarktet eine drei Meter breite und gut zwei Kilometer lange Asphaltstraße am Rönndeich als "Deutsche Krimistraße" ("Konzept Krimiland Kehdingen-Oste"). Da steht es um Harburgs Literaten-Szene weit reservierter.

Taucht Harburg als Szenario eines literarischen Machwerks auf, so darf es sich meist das Attribut "Melancholie" ans Revers heften. Da wäre Strunks aberwitzige Beschreibung seiner lethargischen Landjugend als pink befracktes und Akne gehandicaptes Mitglied der Gala-Band "Tiffanys" ("Fleisch ist mein Gemüse"), die auf Schützenfesten auf dem platten Land aufspielt. Die Morde in Stade, der Blues in Harburg?

Doch Stopp: einen Vorzeige-Kriminalisten hätte Harburg doch. Thorsten Beck, Richter am Amtsgericht Hamburg mit Schwerpunkt auf Arbeitsrecht, hat Harburg seit Jahren als Tatort auserkoren. Nach Feierabend tauscht der in Heimfeld lebende Jurist, Jahrgang 1956, Akten und Robe gegen die Schreibmaschine und lässt seinen Held Tim Börne, einen alleinerziehenden Vater und Anwalt mit Kanzlei in Harburg, im lokalen Bermudadreieck rund um Harburger Schloss, Dampfschiffsanleger und Lotsekai Fälle lösen. Der Erstling der Tim-Börne-Trilogie heißt "Harburg Blues" und in "Der chinesische Pfeil" schickt Beck einen Geschäftsmann nach Harburg, der Showdown erfolgt auf dem Channel Tower.

Forscht man in Harburgs Annalen, stößt man auf ein Genie und seine spitze Feder, das in Harburg geboren wurde und zeitweise am Helms-Museum arbeitete. Es ist Heino Jaeger (1938-1997), der mit seiner Begabung zur Mimikry dem Volk aufs Maul schaute und die verschiedensten Spezialjargons (Kunstkritik, Sportreporter, Kleintierzüchter) so gut imitierte, dass sein Publikum nicht wusste, ob es vor Schreck oder Freude lachte.

Mit bitterbösen und wirr-verdrehten Imitationen überzog Jaeger die Republik. Legendär war seine Radiotelefonberatung "Lebensberatungspraxis Dr. Jäger", wo er die absurdesten Anfragen von Hausfrauen parodierte. Dem Spötter par exzellence, der von Comedians kultisch verehrt wird und der Stimmen hörend in einer Anstalt starb, bekam Nachrufe im überregionalen Feuilleton. Es wird kolportiert, dass selbst seine Psychiater ihn noch um Standup-Comedy auf ihren Feten gebeten haben.

Etwas weiter außerhalb, im schönen Jesteburg, beugt sich Oskar Sodux über seine Manuskripte, "Neues aus aller Welt" heißt sein Roman, der auch ein wenig vom Leben in der Provinz plaudert und vom ewigen Warten auf die Busse. Und in Rönneburg schrieb Hanne Darboven (1941-2009) sicher keine Gebrauchsliteratur. Die Konzeptkünstlerin versuchte mit ihren seriellen Beschriftungen Zeit aufzuschreiben.

Einer, der das Harburger literarische Leben genau beobachtet, hat seinen Arbeitsplatz direkt am Wasser, am Kanalplatz in der Kulturwerkstatt. Seit Jahren macht Rüdiger Käßner die "Harburger Auslese" in der Kulturwerkstatt. Übernommen hat er sie von Dr. Rainer Jogschies, der Harburg in eindringlichen Reportagen auf den Zahn fühlte (beispielsweise wie sich der 11. September und die Terror-Wohnung auf das Selbstverständnis des Stadtteils auswirkten).

Käßner: "Ich versuche stets die besten Autoren hier her zuholen." Man müsse dem Publikum schließlich auch mal etwas zutrauen. Der Literaturveranstalter, der auch in Bergedorf die Kneipe BelAmi mit literarischem Leben füllt, würde in Harburg nicht von einer "eigenständigen literarischen Szene" sprechen, die sieht er eher im kommenden Stadtteil Wilhelmsburg heranwachsen, wo schon mal ein Autor wie Finn-Ole Heinrich hinzieht und wo es "urbaner" sei.

Selten läse ein Harburger Autor bei ihm, das Hamburger Publikum fahre überall hin, nur eben nicht über die Elbe, einen nennenswerte Autoren- oder Schreibgruppe falle ihm in Harburg nicht ein. Doch warum nicht im Rieckhof-Veranstaltungen à la "KaffeSatzLesen" einführen, dem Forum für junge Talente, das in Hasselbrock reüssierte? "Es müsste nur jemand machen." Nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt in der Heimfelder Straße 21 liegt das "Café Leben". Ein Ort, den Freunde des "geslammten" Wortes gerne ansteuern, wenn es alle zwei Monate beim Poetry Slam heißt: "Heimfeld ist Reimfeld." Die Macher, die erst bei "Alles wird schön" starteten, loben auf ihrer Seite "die Enge des Raumes", durch die eine "ziemliche Intimität zwischen Publikum und Auftretenden" entstehe, jeder Auftritt berge ein "großes Stück Unberechenbarkeit". Und noch ein Plus: Armin Sengbusch, der amtierende Stadtmeister im Poetry Slam, kommt aus dem Landkreis. Gerade bezog er Quartier in Asendorf.

Doch vieles könnte besser sein. Leistet sich der Verein Künstler zu Gast in Harburg e. V. ein Stipendium für einen Künstler, der im Mayrischen Haus in der Lämmertwiete ein Jahr arbeitet, so sieht es für einen Poeten schlecht aus. Kein Stadtschreiber ersinnt in Harburg Verse und bereichert das Leben.

Ein Lichtblick, dass der Kulturpreis "Blauer Löwe" des Landkreises dieses Jahr für Literatur vergeben wird. Frauke Wulf koordiniert das Bewerbungsverfahren am Kiekeberg-Museum. Im Herbst will man einen guten Kandidaten küren. Geplant ist, dass der Dekorierte dann bei verschiedenen Gelegenheiten im Landkreis ein Auditorium erfreuen soll.

Und noch eine weitere Raffinesse sitzt in den Startlöchern. Dr. Lutz Flörke und Vera Rosenbuch wollen den "Harburger Salon" starten. In die Bücherhalle Harburg tragen sie ab Herbst Goethes "Die Wahlverwandtschaften", Thomas Manns Dekadenzepos "Tod in Venedig" und Keuns "Das kunstseidene Mädchen". Es gehe nicht um einen Autor, "der gleichförmig vor sich hinmurmelnd hinter einem Tischchen sitzt", machen sie neugierig, sondern um ein "unterhaltsames Zusammentreffen von Texten, Publikum und zwei Literaturbegeisterten."

Und schließlich noch eine literarische Anekdote gibt es zu Harburg: Uwe Timms Lena Brückner aus der Novelle "Die Entdeckung der Currywurst" strickt in einem Harburger Altenheim, wo der Ich-Erzähler sie mehrfach aufsucht. Vielleicht steckt das Geheimnis der Currywurst in Harburg?