Auch in zweiter Instanz erkennen die Richter den S-Bahnhof-Schläger für schuldig

Harburg/Neustadt. Eigentlich wollte Özlem (18) gar nicht kommen zu dieser Berufungsverhandlung am Landgericht Hamburg. Sie hatte fast schon abgeschlossen mit diesem Schreckenserlebnis vom 16. Februar 2009 im S-Bahnhof Harburg-Rathaus: Mitten am helllichten Tag hatte ein kräftiger Mann der Deutschen mit türkischen Wurzeln gegen 15 Uhr mit der Faust voll auf die Nase geschlagen. Der Nasenknochen brach, viel Blut floss. "Die Nasenpyramide ist leicht nach rechts deviiert", hieß es im ärztlichen Befund der Asklepios Klinik Harburg - sprich: die Harburgerin hat seit dem heftigen Boxschlag eine "leichte Schiefnase".

Die Bundespolizei fand den mutmaßlichen Schläger: Izzet K. (25), ein kräftiger Deutscher türkischer Herkunft aus Kirchdorf-Süd. Die Zeugin Cornelia K. hatte ihn am 31. März 2009 in der S 31 wiedererkannt - Videobänder bewiesen das Aufeinandertreffen der Empfangsdame mit dem mutmaßlichen Schläger.

Der Täter drohte: "Soll ich deine Haare verbrennen?!"

Um 14.57 Uhr trafen Cornelia K. und Izzet K an jenem Tag mit der S-Bahn vom Hauptbahnhof kommend in Harburg-Rathaus ein - wie am 16. Februar 2009, als Cornelia K. den Boxschlag in zwei Meter Entfernung beobachtete und Özlem nach dem Schlag zu deren Vater brachte.

Bundespolizisten zeigten Özlem und Cornelia K. am 31. Mai 2009 Bilder von neun Männern, manche sahen sich ziemlich ähnlich. Beide Frauen identifizierten Izzet K. "sofort" als den Schläger von Harburg-Rathaus.

So fällte Richter Philipp am Amtsgericht Harburg am 12. April 2010 ein Urteil: Izzet K. ist schuldig. Die Strafe: vier Monate Gefängnis auf Bewährung und 1200 Euro Schmerzensgeld an Özlem. Izzet K. geht in Berufung und wechselt den Anwalt - an seiner Seite an diesem Verhandlungstag vor der Kleinen Strafkammer II sitzt der Strafverteidiger Ladislav Anisic, der schon angeklagten Totschlägern zum Freispruch verholfen hat und einst den "Heidemörder" Thomas Holst anwaltlich vertrat. Genau diesen Tag wollte Özlem sich ersparen: ihr mutmaßlicher Peiniger vis-à-vis und neben ihm ein wortgewandter und fintenreicher Anwalt.

So muss sie alles noch mal sagen, alles, was sie Polizisten, Bundespolizisten, ihrer Anwältin Ilka Barth, einem Anwalt, einem Staatsanwalt und einem Richter schon mal gesagt hat: "Auf der Rolltreppe hat mich jemand angesprochen, ob ich eine Zigarette will. Ich habe nicht reagiert. Der Mann ließ nicht locker. Ich sagte: 'Lass mich in Ruhe!" Der Mann spielte mit dem Feuerzeug und sagte: 'Soll ich deine Haare verbrennen?!' Ich habe geschrien. Ich bin schneller gegangen. Der Mann hat mir einen Haken gestellt. Ich habe geschrien. Ja, und dann kam die Faust, direkt auf meine Nase."

Özlem ist lange nicht allein S-Bahn gefahren nach diesem Vorfall.

"Ich kenne diese Person nicht. Ich habe sie das erste Mal im Gericht in Harburg gesehen", sagt Izzet K. im Gerichtssaal. "Das muss eine Verwechslung sein." Özlemt: "Ich bin der Meinung, er ist das." "Was bedeutet in ihrem Sprachgebrauch 'ich bin der Meinung'?", fragt Anwalt Anisic. "Ich bin mir sicher", sagt Özlem. Der Angeklagte schüttelt den Kopf, legt die rechte Hand auf die Stirn und guckt zu seinen Eltern und Angehörigen im Zuschauerraum.

Die Zeugin Cornelia K. ist unruhig an diesem Tag. Sie hat Angst, ihren Job zu verlieren, weil sie jetzt schon wieder "wegen dieses Vorfalls" ihren Arbeitsplatz verlassen muss und eine Kollegin sie vertreten muss. Sie hat auch "Angst vor Rache" und sagt: "Ich will niemandem unrecht tun, deshalb will ich hier lieber gar nichts sagen. Ich berufe mich auf die polizeilichen Vernehmungen." Etwas später fügt sie hinzu: "Ich war erschrocken, als der Mann bei der zweiten S-Bahnfahrt neben mir an der Tür stand. Ich war mir ganz sicher, das ist er. Er hatte wieder diese grüne Jacke an." Izzet K. gesteht, dass er der Mann auf den Videoaufnahmen vom 31. März 2009 ist. Aber nicht der Schläger.

Anwalt Anisic bittet darum, eine weitere Zeugin zu hören: die Verlobte des Angeklagten. Sie sagt, sie habe sich am Tattag mit Izzet K. am S-Bahn-Ausgang Neue Straße getroffen. Sie wisse das, weil der 16. Februar 2009 zwei Tage nach dem Valentinstag am 14. Februar 2009 war, da habe sie ihren Verlobten nicht sehen können, und so habe der am 16. Februar 2009 eine Rose mit zum Bahnhofsausgang gebracht. Ja, sie habe diesen Tag und den Ort gar in einem "Buch" festgehalten - nur den Tag und den Ort. Die Rose hänge "noch immer an meiner Wand".

Der Richter wundert sich, warum sie nicht vor dem Amtsgericht Harburg ausgesagt habe. Sie sagt, ihr Verlobter wollte sie "da nicht reinziehen" und dessen damaliger Anwalt habe gesagt, "das ist nicht nötig".

Der Boxschlag kostet den Verurteilten insgesamt über 6000 Euro

"Und wo ist denn nun das Buch?", will der Richter wissen. "Das liegt irgendwo im Keller." "Haben sie es gesucht?", will der Staatsanwalt wissen. "Ich habe irgendwie nicht richtig danach gesucht", sagt die Zeugin. "Und haben sie ihrem Verlobten den Eintrag gezeigt?", fragt der Staatsanwalt. "Nein."

Izzet K. ist ledig, hat keine Kinder, einen Hauptschulabschluss. Er habe seine Lehre als Maler und Lackierer nach zweieinhalb Jahren abgebrochen, "weil ich mich mit dem Chef nicht verstanden habe". Er arbeitet als Aushilfe im Kiosk seines Bruders. Seine Eltern unterstützen ihn. Sein Führungszeugnis weist keine Eintragungen auf. 2005 war er wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 200 Euro verurteilt worden.

"Das schlechteste Beweismittel ist die Zeugenaussage", sagt Anwalt Anisic. "Die menschliche Wahrnehmung ist eine schlichte Katastrophe. Dies ist ein klassischer Fall fehlerhaften Wiedererkennens." Er plädiert auf Freispruch.

Der Staatsanwalt glaubt der Verlobten "kein Wort" und wird ein Verfahren wegen Meineides einleiten - darauf steht mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. Zeugin Cornelia K. und Özlem hätten den Täter bei der Wahllichtbildvorlage "umgehend erkannt". Die Tat sei "von besonderer Brutalität getragen".

Das Schöffengericht verwarf die Berufung. Da der Verurteilte nicht vorbestraft sei und das Verfahren sich lange hingezogen habe, milderte das Gericht das Strafmaß von vier Monaten Haft zur Bewährung auf 120 Tagessätze à 10 Euro. 1200 Euro Schmerzensgeld für Özlem kommen dazu - und Anwalts-, Gerichts- und Zeugenkosten in Höhe von rund 4000 Euro. Damit gilt Izzet K. als vorbestraft. Und die Verlobte hat, so das Gericht, "falsch ausgesagt".