Jens Pradel kümmert sich als Tierpfleger im Wildpark Lüneburger Heide auch um die neuen Tiger

Nindorf. Der 350 Kilo schwere Waldkoloss schreitet auf Jens Pradel zu. Kein Meter mehr ist zwischen Mensch und Tier. Als wäre das nicht ungewöhnlich genug, schiebt Elchkuh Svenja dem Mann ihren mächtigen Schädel entgegen und gibt ihm einen zärtlichen Nasenstups. Für den Mann, der mit dem Elch knutscht, gehören atemberaubende Begegnungen sozusagen zum Alltag: Der 40 Jahre alte Garlstorfer ist Raubtierpfleger im Wildpark Lüneburger Heide.

Jens Pradel hat gerade den Ritterschlag seiner Zunft erhalten. Seit Sonnabend ist er sozusagen Adoptivpapa für zwei Sibirische Tiger, die größten Raubkatzen der Welt. Das Männchen Alex, 250 Kilo schwer, und das Weibchen Ronja, 200 Kilo, stammen aus den Zoos in Eberswalde und Hoyerswerda. Die beiden Riesenkatzen sollen die neue Attraktion des Wildparks in Nindorf werden.

In der Eingewöhnungsphase ist jedes Tier noch in seiner eigenen Box

600 000 Euro hat der Wildpark in den Bau eines 3500 Quadratmeter Tigergeheges investiert, eines der größten in Europa. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit haben die Tiger am Freitag die Nordheide erreicht. Im Gehege arbeiten noch Handwerker, der Elektroschutzzaun ist noch nicht vollständig installiert. Am Mittwoch müssen sie fertig sein, wenn Landrat Joachim Bordt die Tigeranlage offiziell eröffnen wird.

Die mächtigen Katzen akklimatisieren sich noch an ihre neue Umgebung. Meist unsichtbar für die Wildparkbesucher ist ihr Aufenthalt auf das Tigerhaus beschränkt. Tiger und Tigerin können sich zwar sehen, aber noch nicht beschnuppern. In der Eingewöhnungsphase ist jedes Tier noch in seiner eigenen Box.

Das Männchen Alex macht einen entspannten Eindruck. Sein Schnurren klingt wie ein mächtiger Bass aus einer laut aufgedrehten Stereoanlage. Ronja dagegen, hat Jens Pradel beobachtet, wirkt noch nervös. Dennoch erlebt der "Tigerpapa" den ersten magischen Moment mit dem Weibchen: Er darf der gewaltigen Katze einmal zärtlich über die Nase streifen. Näher wird Jens Pradel den Tigern nie kommen. Selbst der Raubtierpfleger bleibt immer auf der sicheren Gitterseite.

Welcher Mensch kann von sich behaupten, die Nase eines lebendigen Tigers berührt zu haben? "Man sagt, ich sei ein ruhiger Mensch", erklärt Jens Pradel eine Voraussetzung dafür. "Das ist das A und O für einen Raubtierpfleger." Zurzeit spricht er viel mit den Tigern, um die Tiere an seine Stimme zu gewöhnen. So bekommen die Raubkatzen von Fußballfan Pradel zu hören, wie die deutsche Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft gespielt hat.

Seine Tiere erkennen ihn an dem leichten Husten

Braunbären, Wölfe, Luchse, Elche oder Waschbären gehören zu seinem Revier. Selbst wenn Pradel in einer Menschentraube steht, erkennen "seine Tiere" ihn an einem leisen Husten. Das ist sein Erkennungszeichen, ein Trick des Raubtierpflegers. Hüstelt der Mann vor dem Elchgehege, macht sich Kuh Sonja auf seine Spur. Zu dem drei Jahre alten Elch hat Jens Pradel ein besonderes Verhältnis. Er hat das von der Mutter verstoßene Tier mit der Flasche aufgezogen. Dennoch ist Sonjas Anhänglichkeit etwas ganz Besonderes: "Manchmal denke ich", sagt Jens Pradel, "sie weiß gar nicht, dass sie ein Elch ist." Trotz der Riesentiger: Für ihn seien die Elche eigentlich die gefährlichsten Tiere. Sie würden keinen Sicherheitsabstand halten, sagt er, hätten ihren eigenen Kopf.

Wer mit wilden Tieren zu tun hat, muss erfinderisch sein. Mit ihren feinen Nasen erschnüffeln sie schnell das bitter schmeckende Medikament, das sie gegen Würmer brauchen. Schlucken will das keiner. Jens Pradel überlistet seine Schützlinge deshalb mit eigenwillig zubereiteten Speisen: Über Torte aus dem Restaurant, mit Fisch angereichert, findet die Arznei dann doch den Weg in die Tiermägen.

Seit elf Jahren kümmert sich Jens Pradel um die Raubtiere im Wildpark Lüneburger Heide. Er ist ein Quereinsteiger in den ungewöhnlichen Beruf. Eigentlich ist der 40-Jährige, der in Lübeck aufgewachsen ist, ein gelernter Zimmermann. Drei Jahre lang schulte er um, um vom Handwerk in den Tierpark zu wechseln. "Das wäre heute so wohl nicht mehr möglich", sagt Pradel.

In der Regel beginnt sein Arbeitstag um 6.30 Uhr. Jens Pradel streift durch sein Revier. Kein Fischotter, der einen verstimmten Magen hat, und kein Wolf, der leicht hinkt, soll ihm entgehen. Er fängt verletzte Tiere ein, mistet den Kot aus oder sammelt übrig gebliebene Fleischreste ein. Zweimal in der Woche sägt der Tierpfleger Zweige in der Baumplantage des Tierparks: "Grünzeug für die Elche", wie er sagt. Der Berufswechsel sei ein Glückfall gewesen: "Jeder Tag ist immer wieder aufregend."