Der historische Triebwagen fährt morgen von Winsen nach Niedermarschacht. Ausstellung im Marstall zum Thema 100 Jahre Kleinbahn.

Soltau/Winsen. Thomas Bitter dreht den Zündschlüssel um und heizt den Dieselmotor einige Sekunden vor. Dann drückt er den Anlasser, es gluckert und blubbert, der Triebwagen schüttelt sich, die Holzbänke zittern, knatschen und ächzen einen kurzen Augenblick lang. Doch dann springt die Maschine an, und mit einem kräftigen Ruck geht das Wackeln in ein gleichmäßiges Vibrieren über, begleitet vom tiefen Brummen des Motors.

"Früher hatten die Wagen zwei Motoren, einen zum Vorwärts- und einen zum Rückwärtsfahren. Dieser wurde aber vor einigen Jahren generalüberholt, die zwei Benziner wurden gegen einen kräftigeren Dieselmotor ausgetauscht", sagt der gelernte Lokführer. Am Dienstag wird er den "Ameisenbär", so wird der Schienenbus wegen seiner langen Motorhaube genannt, von Soltau nach Winsen bringen. Dort freuen sich Eisenbahnfreunde auf eine Fahrt nach Niedermarschacht.

+++ Sonderausstellung bis Mitte Mai +++

Grund für den Besuch des historischen Gefährts von 1937 ist die Ausstellung 100 Jahre Kleinbahn Winsen-Niedermarschacht im Museum im Marstall. 1912 wurde die Strecke als Nordost-Erweiterung der Linie Hützel-Winsen eingeweiht und diente fortan als Kreuzung auf der schon bestehenden Nord-Süd-Strecke Hamburg-Lüneburg. Ab den 30er-Jahren fuhren hier vier Schienenbusse kleiner Eisenbahnunternehmen, die sich später zur Osthannoverschen Eisenbahn AG (OHE) zusammenschlossen. Der "Ameisenbär" auf dem Soltauer Betriebshof der OHE ist das einzige erhaltene und funktionsfähige Gefährt aus dieser Zeit.

In der aktuellen Sonderausstellung des Museum im Marstall wird zum Jubiläum der Strecke ihre geschichtliche Entwicklung dargestellt. "Die Erweiterung des Schienennetzes in die Elbmarsch bedeutete für die Leute dort einen schnelleren Anschluss nach Hamburg. Vorher waren die Menschen vom Schiffverkehr auf der Elbe abhängig", sagt Ilona Johannsen. Sie ist Historikerin im Museum im Marstall und wird die Fahrt am Dienstag mit Erklärungen und Anekdoten ergänzen.

"Es gibt ganz verrückte Geschichten von Aufeinandertreffen zwischen Fußgängern und großen Dampfloks auf der Nettelbergbrücke, eine parallele Ilmenau-Querung für Personen und Autos wurde erst in den späten 60er-Jahren gebaut, bis dahin waren alle auf die Eisenbahnbrücke angewiesen", sagt sie.

Für die Region Elbmarsch war die Bahnstrecke besonders aus wirtschaftlicher Sicht wichtig, erklärt sie weiter. Kartoffeln wurden von hier aus in die Metropolen Hamburg und sogar in das Ruhrgebiet verfrachtet. Aus Westdeutschland kamen im Gegenzug Arbeitskräfte an die Elbe, für die war die Personenbeförderung zu den landwirtschaftlichen Flächen wichtig. Für den Güterverkehr wurden weiterhin Tenderloks genutzt, die Menschen benutzten den Schienenbus. Dreimal am Tag fuhr der "Ameisenbär" bis in die späten 1960er-Jahre in 40 Minuten von Winsen nach Niedermarschacht - jeweils morgens, mittags und abends.

Am Dienstagmittag wird Thomas Bitter den gut sechs Tonnen schweren Triebwagen wieder anlassen und vom Betriebshof in Soltau auf dem OHE-Streckennetz zunächst Richtung Celle fahren. Nach einigen Kilometern überquert er dann die Strecke der Deutschen Bahn über eine Brücke, für das DB Netz ist der "Ameisenbär" nicht zugelassen, und fährt anschließend quer durch die Lüneburger Heide nach Winsen. "Wenn wir richtig auf Touren kommen, dann bringen die rund 60 PS den Wagen auf bis zu 50 km/h", sagt Lokführer Bitter. "Ich kann dann in gut anderthalb Stunden an der Luhe sein." Aber bei der anschließenden Bummelfahrt von Winsen nach Niedermarschacht geht es natürlich um alles andere als Geschwindigkeit. Johannsen sagt: "Die Landschaft und das historische Erleben stehen im Mittelpunkt. Wir haben schon von vielen Ortsansässigen gehört, dass sie sich besonders auf die Fahrt freuen. Einige sind in den 60er-Jahren noch mit dem Ameisenbär zur Schule gefahren."

Die Triebwagen des Typs Wismar, zu dem auch der "Ameisenbär" gehört, sahen von vorn und hinten identisch aus. Bitter sagt: "Es gibt noch heute auf beiden Seiten des Wagens einen Führerstand, man kann dadurch relativ schnell die Fahrtrichtung wechseln. Die Bedienkonsole in unserem Triebwagen ist leider zum Teil überarbeitet worden. Früher hatte der Lokführer zum Beispiel einen viel größeren Hebel zur Geschwindigkeitskontrolle." Robust und pflegeleicht wären damals die maßgeblichen Kriterien gewesen, erklärt er weiter. Die Innenausstattung war in jedem Wagen individuell, Holzverkleidung und lederbezogene Bänke mit insgesamt rund 50 Sitzplätzen waren der Standart.

Einige Schaulustige werden bestimmt in Erinnerungen schwelgen, wenn die Kleinbahn mit der markanten Schnauze wieder durch Nettelberg, Tönnhausen und Eichholz rollt. Ab Juli bietet die Soltau-Touristik regelmäßige Touren mit dem "Ameisenbär" durch die Lüneburger Heide an.