Eine Glosse von Harry Grunwald

Manchmal wundere ich mich über meinen alten Schulfreund Erwin. Er ist schon seit Jahren Rentner, lebt aber immer noch mit einer fast auf die Minute genau strukturierten Zeiteinteilung. "Zeit-Management" nennt man so etwas wohl auf Neudeutsch.

Aufstehen, Spazierengehen, Lesen, Essen, Mittagsschlaf, Fernsehen, Telefonieren, alles findet zu vorher festgelegten Uhrzeiten statt. Erwins Frau hofft immer noch auf eine Lockerung dieses Zeit-Managements. "Im Alter muss man den Wecker doch nicht wochentags auf 6:37 und am Wochenende auf 7:23 Uhr stellen, und auch sonst könnte Erwin ruhig einmal Fünfe gerade sein lassen", hat sie mir neulich ihr Leid geklagt.

Doch Erwin denkt nicht daran, Fünfe gerade sein zu lassen, er hat mir auch den Grund genannt. "Wenn du keine fest umrissenen Aufgaben mehr hast, musst du höllisch auf deine Zeit aufpassen, sonst verplemperst du sie sinnlos, am Ende weißt du nicht, wo sie geblieben ist", sagte Erwin.

Irgendwo hat er ja Recht. Mir ist die Zeit schon oft zwischen den Fingern zerronnen, aber mein Leidensdruck hielt sich dabei in Grenzen. Bisher habe ich es sogar fast immer geschafft, im allerletzten Moment den Bus zu erreichen. Und mein chaotisches Zeit-Management hat mir dabei sogar einen enormen Kick verschafft: Wenn ich mich nämlich völlig abgehetzt und außer Atem in den Sitz fallen lasse, fühle ich mich als Sieger über die tückische Zeit.